Die fröhlich lärmende Gruppe ist sich selbst genug, gibt sich genussvoll ihren Festreden und Trinksprüchen hin und nimmt leichthin das halbe Lokal in Beschlag. Die andere Hälfte aber lockt uns mit freiem Tisch, einladender Sitzbank und an Umfang nicht armer Speisekarte. Doch es sind nicht die Eiernockerl, die uns ins Café Westend geführt haben, und auch nicht das Schladminger Bier, das ihnen formidables Geleit gibt auf ihrer gastroenteritischen Expedition.
Wir warten auf eine Autorenlesung.
‚Verzeihen Sie bitte, aber könnten wir uns auch an Ihren Tisch setzen?‘ Ich blicke hoch und eine ältere Dame schaut uns freundlich und erwartungsvoll an, während ihr Mann, dem diese Frage vielleicht ein wenig forsch und unangemessen scheint, nervös an seinem Ärmel herumzupft. Ihre von der Kälte geröteten Wangen und die ungelenken Bewegungen der klammen Finger, mit denen sie sich von ihren Mänteln befreien, bezeugen die Dringlichkeit des höflich vorgebrachten Anliegens.
Nur ein Herzloser könnte dieser Bitte nicht entsprechen.
‚Kalt ist es in Wien‘, meint die Frau, obschon ihr Akzent nahelegt, dass sie aus noch weit nördlicheren Gefilden stammt. Aus Berlin, wie sich rasch weist, einer Stadt, die ihre Flughäfen mit Pedanterie und einem reichlich undeutschen Verständnis von Termintreue zu bauen pflegt. ‚Wir sind heute erst angekommen und dieses Mal bloß zwei Tage hier‘, sagt sie, bevor sie Bratwurst mit Sauerkraut bestellt, aber ohne Bratwurst, was den Ober spontan seiner würdevollen Fassung beraubt, aber nur kurz. Dies sei kein Problem, entgegnet er, erst unlängst hätte ein Gast einen Burger ohne Fleisch geordert, was eine ungleich größere Herausforderung gewesen sei. Dann macht er noch einen beilagentechnischen Vorschlag, damit das Sauerkraut nicht gar so einsam am Teller lande, und verabschiedet sich mit einer eleganten Pirouette Richtung Küche.
Was empfiehlt man jemandem, der sich nur zwei Tage in Wien aufhält? Ziellos durch die verwinkelten Gassen der Innenstadt streifen, sich in versteckten Hinterhöfen verlieren und wieder herausfinden und das Leopold-Museum mit seinen grandiosen Werken von Schiele und Klimt vielleicht. Aber den pensionierten Psychologen zieht es ohnehin immer wieder in die Heimatstadt Alfred Adlers, dieses großen Verstehers menschlichen Strebens, der sich rückhaltlos mit Freud überwarf. Es ist eine gefällige Plauderei, die wir an diesem schönen Ort führen, an diesem Tisch, der im Grunde zu klein ist für vier Menschen und die erstaunliche Anzahl an Tabletts. Und plötzlich stellen wir fest, dass es stiller geworden ist im Lokal, die lärmende Gruppe längst Richtung Raimund-Theater weitergezogen.
Es wird Zeit für die Autorenlesung.
Friedrich Zawrel war ein Kind des Spiegelgrunds. Ein Davongekommener, dem das angeblich unwerte Leben durch glückliche Fügung nicht mit einer Spritze genommen wurde. Einer, den Heinrich Gross gleich zweimal verfolgt hat wie ein böser Fluch, den man nicht bannen kann. Als hätte jenes erste Mal nicht gereicht für ein ganzes Leben. Luis Stabauer erzählt mit unerhört viel Feingefühl die Geschichte eines Menschen, der sich einfach nicht brechen lässt.
Ein Mädchen von vielleicht fünf, sechs Jahren streicht an uns vorbei wie ein Schmetterling an einer Sommerblume, setzt sich an einen Tisch in der Nähe des Rednerpults und verfolgt eine kurze Weile interessiert das Geschehen, bevor andere Dinge nach ihrer Aufmerksamkeit verlangen und sie still davoneilt. Mittlerweile steht Angelika Stallhofer am Pult, die mit feinem Humor und kluger Einsicht die ambivalenten Erfahrungen mit uns teilt, die ihr Protagonist Adrian mit den Eigenheiten eines neu errichteten ‚smart homes‘ macht und erstaunlicherweise versagt ausgerechnet bei ihr mitten im Vortrag das Mikrofon. Schließlich Daniel Zipfel. Mit einem Roman, der die Grenzen vermeintlicher Rechtschaffenheit offenbart. Der an Dingen zweifeln lässt, die bislang unhinterfragt blieben. Und zeigt, wie wahr und notwendig die Grautöne sind in einer Welt, die uns zunehmend als schwarz-weiß verkauft wird.
Und kurz bevor der Autor zu seinem letzten Satz anhebt flattert das Mädchen wieder in den Saal, selbstbewusst und zielstrebig wie ein Spatz auf Futtersuche, setzt sich auf seinen Platz und stellt behutsam eine kleine Blumenvase vor sich auf den Tisch.
Dann reicht sie jedem der drei Autoren ein Zuckerl.
Wer ähnliche Geschichten erleben will: die nächste Lesung findet am 14. Februar statt.