Schritt für Schritt

Aus dem Alltag

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‚Kommst du, Mama?‘, rufe ich in den dämmrigen Raum hinein, obschon der Tag doch sonnenhell ist. Ja, meine Eltern, sie dulden halt kein Übermaß an Licht und Wärme in den Zimmern. Der Sommer findet draußen statt, ins Haus, da darf er nicht. ‚Ich komm‘ ja schon, Kind‘, meint sie von drinnen, während ich meine Sonnenbrille auf den Nasenrücken schiebe und einem Falken dabei zusehe, wie er ein gutes Stück über mir lautlos seine Kreise zieht. Dann drehe ich mich um, sehe ins Haus hinein, auf meine Mutter, die mittlerweile im Vorzimmer steht. Und frage mich, warum man für eine kleine Runde durch den Garten Stöckelschuhe anziehen muss.

Die paar Stufen in den Hof hinunter wollen wie immer mit Umsicht bewältigt werden. Zu tief sitzt das Trauma, seit sie an jenem Tag Mitte der Achtzigerjahre die Treppe in hastiger Manier genommen hat und sich mit einem Mal zu Füßen des wenig pittoresken Zählerkastens wiederfand. Mit angeknackstem Selbstwertgefühl und einem gebrochenen rechten Unterarm. Drama, Baby. Unterhalb der Treppe eine Burg in Miniaturformat. Geschaffen in den Sechzigern, von Kinderhänden wüst bespielt bis in die späten Siebziger, erobert von der Zeit im Lauf der restlichen Dekaden. Hauswurz und Steinbrech lagern heute dort, wo einst feindliche Spielzeugtruppen listig in Stellung gingen, und kein Fähnchen weht mehr auf dem höchsten Punkt der Burg. In großen Stücken blättert Farbe von den vormals roten Dächern, die Zinnen sind schon lang Geschichte, die Mauern bleiben ungekrönt. Eine Eidechse raschelt im niedrigen Gestrüpp, wuselt aufgeregt über den Burghof und verschwindet in einer grämlich kleinen Ritze.
Meine Mutter steht neben mir, zeigt auf eine Hortensie, die ihr früheres Blau mangels saurer Erde längst verloren hat und in ein gemeines Rosa regrediert ist. ‚Die hast du mir damals geschenkt, Kind‘, sagt sie und sagt es nicht zum ersten Mal. ‚Ich weiß, Mama, ich hab sie ja gekauft. Nur hat sie damals eine andere Farbe gehabt‘, werf‘ ich ein. Und wünsch‘ mir still, dass doch nicht jeder Satz an mich mit einem ‚Kind‘ enden möge, als würde irgendein absurdes Protokoll danach verlangen. Sage es aber nicht.
‚Ach so?‘

Ich gehe weiter, vorbei an der mäßig vollen Regentonne, in der ein glückloses Insekt verzweifelt um sein Leben strampelt, die anderen, sie sind längst tot. Mit beiden Händen eine Kelle formend, befreie ich das Tier aus seinem nassen Kerker und bugsiere es mit Schwung in die Botanik. Es wird ja ohnedies zu viel gestorben überall. Mama weist auf den prächtigen weißen Rosenstrauch, der voller Blüten ist und über vier Jahrzehnte alt. Das Beet daneben birgt eine Legion von Maiglöckchen, die nun, zu dieser Jahreszeit, freilich nur mehr ihre grünen Blätter zur Schau zu tragen haben und geduldig auf das nächste Jahr warten. Wo einst Rasen war, ist Wiese nun, nur vereinzelt wagt sich noch ein unerschrockener Grashalm durch ein verwegenes Dickicht aus Löwenzahn, rotem Klee und Gänseblümchen. Niemanden stört es und die Bienen haben durchwegs ihre Freude an dem Klee. ‚Nimm‘, sagt meine Mutter und streckt mir eine Hand voll Brombeeren entgegen. Schwarz sind sie, leicht klebrig, duften nach Sommer und schmecken wie die Kindheit selbst, süß und säuerlich zugleich. Meine Mutter wirkt müde, Schweiß läuft ihr in dünnen Fäden von der Stirn. ‚Kind‘, sagt sie, ‚es geht halt alles nicht mehr so leicht wie früher. Wann bin ich alt geworden?‘
Hoch über unseren Köpfen zieht stumm der Falke seine Runden, in der Ferne bellt ein Hund, die Sonne fällt in schrägem Winkel auf unsere Gesichter. Und zum ersten Mal seit Jahren missfällt es mir nicht, dass sie mich ‚Kind‘ nennt.

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