Wo bist du?

Aus dem Alltag

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Nein, sie war nirgendwo zu sehen, die Suche blieb vergebens. Er stand inmitten der Weingärten, kroch seit Stunden zwischen den alten Rebstöcken herum, die schon reife Trauben trugen. Lief die langen Rebzeilen entlang, stolperte über erstaunlich große Erdbrocken. Er schrie ihren Namen, immer und immer wieder. Rief ihn hinaus in die Weite der Riede, die sich zwischen den beiden Dörfern ausbreitete wie ein kleiner grüner See.
Die Katze aber blieb verschwunden.

Der Bub blieb stehen. Er hatte eingesehen, dass er sie nicht finden würde. Nicht hier, nicht bei der Böschung, die mit Brombeerstauden überwuchert war. Auch nicht beim nahen Waldrand, wo sich die letzten Weingärten verloren wie Klippen, die unvermittelt ins Meer stürzten. Darüber hinaus war jede Suche ohne Sinn, der Wald war dicht und weglos.
Er sah ein, dass er sie nicht wiedersehen würde, nicht nach all den Tagen. Im Grunde hatte er auch nie damit gerechnet. Vielleicht erwartet, erhofft sogar, über ihren kleinen, toten Körper zu stolpern, der neben einem Klumpen Erde lag. Bloß der Gewissheit wegen. Wäre sie am Leben gewesen, hätte sie den Weg zu ihm gefunden, das wusste er. Als er das begriff, tatsächlich begriff, hörte er zu rufen auf, ließ sich langsam auf dem zernarbten Boden nieder und blickte in die Richtung, wo sein Elternhaus stand. Die eine Träne, die er vergoss und die bedächtig über seine linke Wange mäanderte, bevor sie seinen Mund umkurvte und von seinem Kinn tropfte, beachtete er nicht.

Jetzt, da sein Rufen nicht mehr war, schien die Stille allgegenwärtig. Er sah sich um. Ein Zitronenfalter trudelte scheinbar unbeholfen durch die Luft, landete auf einem Brocken lehmiger Erde, den er erbost und unverrichteter Dinge wieder verließ. Trauben hingen feist und zahlreich an den Rebstöcken und warteten auf ihre Ernte, sie konnte fern nicht sein. Ein paar Reihen weiter flatterte ein Fasan auf und suchte aufgeregt das Weite. Der Bub stand auf, den Staub auf seinem Hosenboden ließ er bleiben, wo er war. Jetzt erst bemerkte er das Blut auf seinem linken Knie, es war nicht viel, es war ihm egal. Dort vorne, es mochten hundert Meter sein, stand das Elternhaus und seine weiße Fassade leuchtete in das Grün des Weinbergs hinein wie ein Leuchtturm auf die offene See. Im Nachbarhaus, jenem, das hangabwärts lag, wurde ein Fensterladen geöffnet, ansonsten lag die Siedlung in pittoresker Unbeweglichkeit. Eine Katze huschte eilig durch die Rebzeilen, ganz nah vorbei an dem Buben.
Es war nicht seine.

Der Motor verstummt abrupt, als ich den Zündschlüssel aus dem Schloss ziehe, und mit ihm schweigt Alanis Morrissette, die eben noch ‚That I Would Be Good‘ sang. Ich steige aus dem Auto, schließe die Tür, blicke die Straße entlang. Sie ist verwaist. Die Häuser der Siedlung sind alt geworden und mit ihnen die Menschen, die in ihnen leben. Ich blicke hinauf zum ersten Stock des Nebenhauses, wo ein Fenster offen steht, doch niemand ist zu sehen. Auf der anderen Straßenseite, dort, wo früher Weingärten lagen, stehen nun in Doppelreihe schmucke Einfamilienhäuser. Sie sind hübsch anzusehen.

Sie waren noch nicht hier, als vor vier Jahrzehnten ein Bub durch die Weingärten gestolpert, unter alten Rebstöcken hindurchgekrochen ist. Ein Bub, der auf der Suche war nach seiner Katze. Er hat sie nie gefunden. Mit meiner Hand beschatte ich die Augen. Zwinkere, als ich mich mühe, in einiger Entfernung die Böschung auszumachen, die voller Brombeerstauden war, es will mir nicht gelingen. Ein Schmetterling landet auf meinem Handrücken. Breitet seine Flügel aus.

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