Das Mädchen weiß nichts von Corona. Lachend stößt es die grüne Plastikschaufel in den Sand, füllt den kleinen blauen Kübel, streut den Großteil über seine nackten Beine. Das Mädchen spielt alleine. Nur seine Mutter ist noch im Innenhof, sitzt auf der Bank, die gleich neben dem Sandkasten steht, und schaut auf das Kind, dann wieder auf ihr Handy. Ein Luftstoß fährt durch ihr langes, schwarzes Haar, löst eine Strähne, die den Blick trübt auf die Welt, die sich am Display tummelt. Zu ihren Füßen liegt ein gelber Spielzeugbagger.
Ich kehre dem Balkon den Rücken und schließe die Tür. Gehe zum Esstisch zurück, der mein Büro geworden ist, und nehme wieder Platz, die kurze Pause ist vorüber. Vor meinen Augen stürzt das Virus nun auch die Finanzwelt ins Elend und stört massiv mein Wohlbefinden. Die Märkte, sie sind arg verschnupft und einer steckt den andern an, es ist ein großes Trauerspiel. Der Beruf ermüdet dieser Tage, ich bin es nicht gewohnt, dass Bulle und Bär in meinem Wohnzimmer toben. Mein Arbeitsalltag ist im Umbruch, ich kann das nicht goutieren.
Im Radio werden ‚Nachrichten in einfacher Sprache‘ gesendet. ‚Das Virus ist winzig klein. Man kann es nicht sehen.‘, verkündet der Sprecher, während der DAX über die nächste Klippe springt. ‚Bei Menschen mit Corona-Virus-Krankheit ist das Virus zum Beispiel in der Spucke. Das Virus kann dann bei den Augen, bei der Nase oder beim Mund in den Körper klettern.‘, höre ich und sehe, wie die gesamte Zinskurve in negatives Territorium fällt und der Ölpreis zu einem weiteren Suizidversuch ansetzt.
Die Kreditanfragen häufen sich.
Doris, deren Home Office sich im Nebenraum entfaltet, öffnet die Wohnzimmertür, geht an mir vorbei und macht sich eine Tasse Tee. Seit Tagen haben wir unsere Wohnung nicht mehr verlassen, es wäre uns auch nicht danach. Krank geworden sind wir nicht. ‚Wie geht’s bei dir?‘, frage ich und spüre die Anspannung, die in mir hockt wie ein bösartiger Hund in einem Zwinger. ‚Geht so‘, meint sie und greift nach einem großen Brösel, das ein eilig geschnittenes Baguette auf der Küchenarbeitsplatte hinterlassen hat. ‚Der Corona-Test ist jetzt aufgesetzt und die Befundübertragung funktioniert auch‘, sagt sie. ‚Aber Laborarbeit lässt sich aus der Ferne halt schlecht machen.‘ Ich nicke stumm und sehe aus dem Augenwinkel, wie der Bund-Future massiv ausschlägt und die langen Zinsen plötzlich nach oben schießen. In einer Welt, die aus dem Lot gerät, ist hohe Volatilität die einzige Konstante.
Wird der Tag ein Ende nehmen?, denke ich mir und setze erschöpft die Kopfhörer ab. Doris telefoniert im Nebenzimmer und ich frage mich, ob sie dieses Mal mit ihrer Primaria, den Kollegen von der PCR-Analytik oder der IT konferiert. Der Nachrichtensprecher im Radio berichtet über einen steirischen FPÖ-Politiker, der mit drei Gleichgesinnten eine Corona-Party gefeiert hat und der Polizei wissen ließ, man habe bloß über die Instandsetzung der örtlichen Tennisplätze diskutiert. Ich blicke auf mein Handy und sehe, dass der Mobilfunkanbieter als Netzkennung nun ‚#bleibdaheim‘ sendet. Als ob ich hinauswollte.
Die Corrs singen ‚Go on, go on, leave me breathless‘, was ich durchaus verwegen finde.
Auch beim Abendessen teilen wir den Esstisch mit Laptop, Block und Monitor, die Arbeit ist nun stets präsent. Rotwein wird fortan als Medizinprodukt betrachtet und als Dauermedikation verabreicht. Eine Flasche reicht drei Tage lang.
Im Hauptabendprogramm erzählt uns eine Soziologin, dass die Corona-Krise für Menschen unserer Bildungsschicht ein aufregendes Abenteuer sei, das wir womöglich im Pyjama vor dem Laptop verbrächten. Ich schwanke, ob mich ihre Ahnungslosigkeit mehr empören oder belustigen sollte und frage mich, warum so viele Menschen über Dinge sprechen müssen, von denen sie keine Ahnung haben. Norbert Hofer sitzt in seinem Haus am Land und kritisiert den Gesundheitsminister. Nadja Bernhard sagt ‚Wir kriegen das hin‘.
Endlich eine Meinung, die ich teilen kann.
Am nächsten Morgen, nach einer Nacht, die traumlos, dunkel, flüchtig war, läutet Doris‘ Telefon.
Unsere Quarantäne ist zu Ende.
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