Enge

Aus dem Alltag

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Wiese. Graben. Maisfeld. Sie hatte die Augen geschlossen und hinter geschlossenen Lidern sah sie die Bilder, die sie seit ihrer Kindheit in sich trug. Sie waren nie verblasst. Schon als Sechs-, Siebenjährige war sie fasziniert gewesen von der Schönheit einer Klatschmohnwiese. Einer blühenden Distel. Des alten Kirschbaums, der inmitten der Weingärten stand und nichts zu wissen schien von der Zeit, die rings um ihn die Welt veränderte.
Sie öffnete die Augen.

Die Bilder ihrer Kindheit waren der Auslöser gewesen. Der Grund, weshalb sie Fotografin geworden war. Seit sie denken konnte, hatte sie mühelos den Blickwinkel gefunden, der ein Bild erst interessant machte. Sie hatte sich nie etwas eingebildet auf ihre Gabe und doch war sie sich ihrer stets bewusst gewesen. Schon damals, als ihr Zwillingsbruder dieselben Wege ging wie sie. Dieselben Dinge sah. Und doch nie wahrnahm, was sie bewegte.
Lange hatte sie sich gefragt, ob etwas seltsam war an ihr.

Sie griff nach dem Telefon. Und wusste doch, dass es zwecklos war. Ihr jüngstes Projekt, die Reise nach Israel, die sie mit Andreas machen sollte, lag auf Eis. ‚Auf unbestimmte Zeit verschoben‘, hatte die Redaktion vor Wochen geschrieben. Corona sei Dank. Sie mochte es, mit Andreas zu arbeiten. Er konnte die Menschen zum Reden bringen, fand intuitiv den richtigen Blickwinkel auf ihre Schicksale und Geschichten. Wusste, wie er zum Kern der Dinge kam.
Er war wie sie.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte den Kopf und sah nach rechts. Eine Amsel hockte am Boden ihres Balkons und schaute sie durch die bodentiefen Fenster an. Das Telefon in der rechten Hand, stand sie da. Bewegte sich nicht. Dachte nichts.

Zwei Stunden später saß sie vor ihrem Laptop. Wollte auf die Mail einer Freundin antworten, die sie lange nicht gesprochen hatte und noch viel länger nicht gesehen. Irgendjemand im Haus spielte Klavier. Oder übte es zumindest. Was sie in der Mail las, machte sie mutlos. Schnürte ihr die Seele ein. Alle ihre Freunde schienen der Pandemie mit derselben Mischung aus Kleinmut und Schicksalsergebenheit zu begegnen. Sie atmete tief durch.
Da kam die Wut.

Die Beliebigkeit, mit der die Leute auf diese seltsame Zeit reagierten, auf die massiven Einschränkungen, die sie mit sich brachte, irritierte sie. Empörte sie. Ständig zuckten sie mit den Schultern oder sagten ‚Da kann man nichts machen‘, als wäre im Supermarkt ihre Lieblingskäsesorte nicht zu haben oder die Sonntagszeitung vergriffen. ‚Bleiben wir heuer eben zu Hause‘, hatte Sonja geschrieben. Es gefiel ihr, dem Leben stets eine positive Seite abzutrotzen. Zu Hause sei es doch auch schön.

Konnte es möglich sein, dass sie tatsächlich die einzige war, die sich nicht abfinden wollte mit dieser Enge, die einem die Seuche aufzwang? Immer wieder fragte sie sich, ob ihre Meinung falsch war. Egoistisch. Ihr Beruf hatte sie oft genug in gefährliche Situationen gebracht. Auch wenn ihr klar war, dass sie nicht jedes Risiko beherrschen konnte, es war ihr doch immer bewusst gewesen. Sie hatte sich nie hilflos gefühlt.
Sie klappte den Laptop zu und horchte in den Raum hinein. Das Klavier war nicht verstummt. Dieselben fünf Takte kehrten wieder und wieder.

Dann schloss sie die Augen und hinter geschlossenen Lidern sah sie die Bilder, die sie seit ihrer Kindheit in sich trug.
Wiese. Graben. Maisfeld.

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