Atmen

Aus dem Alltag

Written by:

Views: 1208

Atmen. Die Augen schließen, Luft in die Lungen pressen. Zählen, langsam erst: eins, zwei. Sich zwingen: an nichts denken. Unmöglich noch, die Angst ist überall. Drei, vier, fünf. Atmen, tiefer jetzt die Züge, weiter der Brustkorb. Die Panik zur Seite drängen, ihr zuschreien: geh weg! Sechs, sieben. Der Ruhe nachspüren, die eintritt wie ein scheuer Gast. Acht, neun. Die sich umsieht, ob sie Raum finden kann. Ob es sich lohnt zu bleiben. Zehn.
Die Augen öffnen.

Sein Puls rast immer noch, doch etwas in ihm hat Halt gefunden. Er denkt sich: es hat funktioniert. Jubelt reglos. Lautlos. Fühlt Erleichterung in sich aufsteigen, die den sauren Geschmack der Panik kaschiert. Sieht auf seine rechte Hand, die zittert und sich trotzig seiner Reglosigkeit widersetzt. Ein blauer Kugelschreiber tanzt in den Fingern, schwingt im Rhythmus seiner Angst.

Er hebt den Kopf, schaut über seine zitternde Hand hinweg, die den Kugelschreiber nicht loslassen will. An den beiden Bildschirmen vorbei, die ihn anstarren wie ein monströses Augenpaar, herablassend und kalt. Schielt verstohlen zu den Kollegen hinüber. Ob sie seine Panikattacke bemerkt haben? Sie so tun, als ob nichts wäre? Sich sagen: ihn besser ignorieren? Den, der ständig Schwäche zeigt? Scham flutet ihn, Schweiß strömt, als wäre ein Ventil geborsten. Die Angst blitzt boshaft auf, zeigt nochmals ihre Fratze. Der Kugelschreiber gleitet ihm aus der Hand, kullert über den Schreibtisch. Rollt über die Kante. Fällt zu Boden.
Jemand schaut in seine Richtung.

Er steht auf, zwingt sich auf, geht zur Toilette. Schließt sich ein in der hintersten Kabine. Bleibt stehen und starrt auf den Toilettensitz, der hochgeklappt ist. Sieht die feinen Urintröpfchen am Boden. Den Klobesen, der nicht in der Halterung hängt, sondern in der Ecke lehnt, Gott weiß warum. Fühlt nichts, weder Ekel noch Scham noch Angst. Steht nur da und sieht den Schweiß, der sein Hemd getränkt hat an den Achseln und am Bauch. Wartet, er weiß nicht worauf. Hört, wie die Spülung läuft in der Nebenkabine, die leer ist. Atmet. Eins, zwei. Zählt bis zehn. Dreht sich um, entriegelt die Tür und tritt hinaus in den Waschraum.
Hört, wie die Spülung läuft und läuft. Es kümmert ihn nicht.

Comments are closed.