Nach dem Kuss

Gastbeiträge

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Sie hatte einen steifen Nacken, als sie endlich wieder erwachte, aber sonst? Das Turmzimmer schien unverändert, bis auf den Prinzen natürlich. Er war jünger, als sie ihn sich vorgestellt hatte, und blond. Warum hatte sie gedacht, er wäre dunkelhaarig? Er saugte an seinem Daumen. „Scheißdornen“, sagte er, als er merkte, dass sie ihn ansah. Sie versuchte sich an seinen Kuss zu erinnern. Eine Ewigkeit hatte sie darauf gewartet, und nun – sie gähnte. „Arthur“, schallte es durchs Schloss. Mutter war auch erwacht.

Der Prinz verlor keine Zeit. Unverzüglich machte er sich bei ihrer Mutter beliebt. Mama hatte die Truhe mit den Abendkleidern vom Dachstock holen lassen und aalte sich vor dem Spiegel. Schlank im Schlaf – Doktor Blütenbruch hatte recht gehabt. Der Prinz küsste Mama die Hand und fragte, ob sie die ältere Schwester von Dornröschen sei. Alle nannten sie Dornröschen nun. Mama seufzte und ließ ihre Hand eine Weile in der des Prinzen. „Die Hochzeit wird Ende Mai stattfinden“, entschied sie dann.
„Können wir nicht noch etwas warten?“, fragte Dornröschen.
„Du wirst nicht jünger“, meinte Mama und zupfte an ihrem paillettenbesetzten Ausschnitt.
„Ja, aber es ist alles anders jetzt.“
„Anders?“ Mama schob den BH unter ihrem Kleid zurecht. „Es ist alles wie früher, ich brauche einfach einen dieser Push-ups.“
„Der 30. oder der 31.?“, fragte der Prinz, ohne von seinem Smartphone aufzusehen.

Papa, Arthur, saß in der Waffenkammer und polierte. „Schau dir das an.“ Er hielt Dornröschen einen Säbel hin. „Alles verrostet.“ Es roch nach dem toxischen Putzmittel, das er sich aus London kommen ließ. „Ich werde Wochen brauchen, um das wegzukriegen.“
„Mama sagt, ich muss Ende Mai heiraten.“
Papa fuhr sich mit dem Putzlappen über die Stirn. „Das wird knapp.“
„Ich würde lieber noch etwas warten.“
Der Putzlappen hatte einen weißen Streifen auf Papas Stirn zurückgelassen. „Wenn deine Mutter Ende Mai sagt …“
Er musste den Satz nicht fertig machen. Dornröschen wusste, dass er Mama nicht widersprechen würde. Er hatte ihr noch nie widersprochen, auch damals nicht, als Mama Tante Elfride nicht zu ihrer Taufe einlud, weil sie fürchtete, die Schwägerin käme in einem ihrer handgewobenen braunen Sackkleider.

In der Schlossküche duftete es köstlich, und Dornröschen merkte, dass sie Hunger hatte. Während sie den Apfelkuchen aß, liefen die Nachrichten am Fernseher über dem Spülstein. In den Kanälen von Venedig tummelten sich Delfine. Die Eisbärpopulation hatte sich dieses wieder Jahr verdoppelt, der Aletschgletscher war zehn Zentimeter gewachsen. Dornröschen seufzte. Kein Grund mehr, um die Schule zu schwänzen. Die letzte Fledermaus war in chinesischer Gefangenschaft verstorben.

Die beiden Wachen am Tor drückten auf ihren Handys herum. „Boom, boom, boom.”
„So cool”, sagte der andere. „All die neuen Spiele, die es jetzt gibt.”
Die Rosen an der Schlossmauer blühten, und eine Weile beobachtete Dornröschen die Bienen, die sich gegenseitig aus den Blüten schupften. Im Wassergraben schwamm ein Pizzakarton. Einer der gescheiterten Prinzen musste ihn zurückgelassen haben. Dornröschen dachte an die bevorstehende Hochzeit. Warum musste sie diesen blonden Knaben heiraten?

Tante Elfride saß in der Sonne am Teich und unterhielt sich mit dem Frosch. „Wir haben gerade von dir gesprochen“, sagte sie, als sie Dornröschen erblickte. Tante Elfride trug Blue Jeans, ein T-Shirt und Ohrstecker aus Perlmutter.
Dornröschen wusste, dass ihre Tante und der Frosch ein Paar waren, aber so in aller Öffentlichkeit hatte sie die beiden noch nie zusammen gesehen. „Seid ihr …?“
„Was kümmert uns die Geschichte“, sagte die Tante und küsste den Frosch. „Wir haben lange genug gewartet. Wie geht es dir?“
Dornröschen setzte sich neben sie. „Ich muss diesen Prinzen heiraten.“
„Heiraten? Die Prophezeiung lautete lediglich, dass du von seinem Kuss wieder erwachen wirst.“
„Ja, aber es erwarten alle, dass ich ihn nun heirate.“
„Es wäre besser gewesen, das Kind wäre gar nie eingeschlafen“, wandte der Frosch ein. Elfride seufzte. „Ich weiß. Aber bei der Taufe damals fiel mir nichts anderes ein, und ich konnte nicht zulassen, dass diese Gänse ihr noch mehr anhängten, Anpassungsfähigkeit, Bescheidenheit, Sittsamkeit. Stell dir vor, was aus dem Mädchen geworden wäre.“
Der Frosch wiegte nachdenklich den Kopf. „Vielleicht könnte man dem Prinzen eine Beteiligung an den Filmrechten anbieten? Oder am Merchandising? Wenn er das klug macht, kann er so ein Vermögen verdienen.”
„Er ist blond”, wandte Dornröschen ein.
„Ach so.”
Eine Weile herrschte Schweigen.
„Es ist alles wie früher”, meinte Dornröschen dann niedergeschlagen. „Es hat sich gar nichts geändert.”
Tante Elfride und der Frosch schauten sich an. „Wir haben uns geändert.” Tante Elfride lächelte. „Nun müssen wir nur noch die Geschichte ändern.”

Gabrielle Alioth wurde 1955 in Basel geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Basel und Salzburg und war als Konjunkturforscherin tätig. Seit 1984 lebt sie als Schriftstellerin in Irland. Neben Romanen publiziert sie Kinder-, Reise- und Sachbücher sowie Lyrik auf Englisch, arbeitet journalistisch und unterrichtet an der Hochschule Luzern.
Gabrielle Alioth

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Gabrielle Alioth, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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