Das nachdenkliche Nilpferd

Gastbeiträge

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Der graue Rossschwanz des Tierwärters quoll wie ein kleiner Wasserfall aus seiner bunten Schirmmütze.
„Joe ist unser Denker“, sagte der Mann mit Blick auf das Nilpferd, das ihm kurz zuzulächeln schien.
„Er sieht ganz so aus“, bestätigten wir.

„Joe hat im Laufe der Zeit ganz interessante Gedanken entwickelt“, fuhr der Tierwärter weiter.
„Ach so?“ Meine Frau und ich wussten nicht recht, ob dies im Ernst oder als Spässchen gemeint war.
„Joe, erzähle doch den beiden Besuchern gleich selbst von deinen spannenden Gedankengängen“, forderte der Tierwärter das Nilpferd auf und verabschiedete sich mit einem feinen Lächeln.

Kaum war der Mann in seinen Kleinlaster gestiegen und weggefahren, wandte sich Joe an uns: „Vor ein paar Jahren stürzte ich in eine furchtbare seelische Krise. Alles kam mir plötzlich unnatürlich und sinnlos vor. Schliesslich begann ich daran zu zweifeln, dass es mich überhaupt gab.“
„Du hast es auch …?“, fragte ich meine Frau erschrocken.
Sie nickte, bevor ich meinen Satz fertig gesprochen hatte. Ihrem ungläubig erstaunten Blick sah ich an, dass sie Joe so gut verstanden hatte wie ich.
Ich wusste, dass nach alter Überlieferung Menschen und Tiere an Weihnachten miteinander sprechen können. Auch soll der grüne Malachit beim Menschen die Fähigkeit wecken, die Sprachen der Tiere zu verstehen. Doch erstens dauerte es bis Weihnachten noch eine ganze Weile und zweitens trugen weder meine Frau noch ich auch nur ein Splitterchen von diesem Wunderstein auf uns.
„Ich wäre wohl an diesem entsetzlichen Zweifel zu Grunde gegangen“, fuhr das Nilpferd Joe weiter, „wenn ich nicht eines glücklichen Tages den rettenden Einfall gehabt hätte: Wenn es mich nicht gäbe, könnte ich ja gar nicht denken. Die Tatsache, dass ich denke, ist ein Beweis dafür, dass ich bin! Mit diesem Zaubersatz war ich schlagartig von meinen unheimlichen Zweifeln befreit. Doch schon ein halbes Jahr später liess mich ein Besucherpaar erneut in den schrecklichen Abgrund der Ungewissheit zurückfallen.“

„Was denkt wohl ein Nilpferd?“, fragte die Besucherin ihren Begleiter.
„Ein Nilpferd denkt nicht“, antwortete ihr dieser klipp und klar.
„Die Bemerkung stellte mein Dasein von neuem schonungslos in Frage. Doch diesmal fand ich schon nach wenigen Minuten den Ausweg aus meiner Verzweiflung.“ Joes Ausführungen bekamen einen stolzen Unterton. „Wenn ich diesem Herrn glaube, dass ich nicht denke, denke ich, dass ich nicht bin. Wenn ich aber denke, dass ich nicht bin, denke ich – also bin ich doch! Einleuchtend, nicht wahr?“
Meine Frau und ich nickten überzeugt.
„Damit sind alle Zweifel an meinem Vorhandensein ausgeräumt“, stellte das Nilpferd abschliessend fest. Es verabschiedete sich mit einem freundlichen Take care! und zog sich hinter einen Felsbrocken zurück.

Wir blickten ihm beeindruckt nach. Denn dass der französische Mathematiker René Descartes schon vor Jahrhunderten auf den Satz: Ich denke, also bin ich! gekommen war, schmälerte in unseren Augen die denkerische Leistung von Nilpferd Joe keineswegs.

Kurt Hutterli, Schriftsteller und Künstler, 1944 in Bern geboren. 1996 mit seiner Frau Marianne nach Kanada ausgewandert. Seine Schweizer Heimat nie aus dem Herzen verloren. Zuletzt erschienen: „Leo und Johanna“, ein Laientheaterstück, teaterverlag elgg, Belp 2019 und „Pflaumengestirn und Hasenpfeffer“, Gedichte, Münster Verlag, Basel 2020
Kurt Hutterli
Münster Verlag

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Kurt Hutterli, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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