Lukas sah auf die Kirchturmuhr, aber die Zeit sah er nicht. Er musste blinzeln, weil er nicht nur auf den Turm, sondern auch in die Sonne schaute, was sich leicht hätte ändern lassen, wenn er nur ein paar Schritte zur Seite gemacht hätte, aber dieser Sinn fürs Praktische war ihm einfach nicht gegeben. Also stand er da, den Mund leicht geöffnet, den Kopf nach oben gereckt, und sah auf die Uhr, die die Zeit nicht mehr maß.
Dass die Zeit ungemessen blieb, lag freilich nicht an Lukas, sondern am Fehlen des Minutenzeigers, der vor Jahrzehnten verschwunden, aber nie ersetzt worden war. Niemand im Dorf konnte sagen, wie sich die Sache genau zugetragen hatte, ja nicht einmal über den Zeitpunkt des Verschwindens herrschte mehr Einigkeit, der Thesen aber gab es viele. Dass dieses Fehlen durchaus behoben werden konnte, stand hingegen außer Streit, dieses Einvernehmen allerdings in die Tat umzusetzen, schien einer Anstrengung zu bedürfen, der sich das Dorf beharrlich nicht gewachsen sah.
Die Zeit verging folglich auch weiterhin, wenngleich eigenartig unpräzise, da konnte sich der Stundenzeiger noch so beständig im Kreis drehen, er schuf doch immer nur Stückwerk.
Lukas also stand und schaute. Er sah den Kirchturm, der einst weiß gewesen sein mochte, nun aber in schmutzigen Grautönen himmelwärts strebte. Er sah den Riss, der sich auf halber Höhe quer über das Mauerwerk zog, gleich unterhalb des kleinen Fensters, und er sah die Wolken, die am Himmel dahinrasten, als hätten sie andernorts weit Besseres zu tun. All das war ihm nicht neu. Was er aber zum ersten Mal sah, war das Spruchband, das unterhalb der Turmuhr hing.
‚Wir fordern keine Zukunft, aber gebt uns eine Gegenwart‘, stand darauf.
Lukas fragte sich, wie es möglich war, in dieser Höhe eine derart lange Parole zu platzieren, die auch vom Kirchplatz aus gut zu entziffern war. Er fragte sich, warum man das Spruchband nicht sorgfältiger befestigt hatte, damit es nicht so leicht im Wind flatterte, was zwar die Aufmerksamkeit erhöhte, aber die Lesbarkeit minderte. Und er fragte sich, wo Matthias und Lorenz blieben, es war doch jeden Tag dasselbe. Er lehnte sich an die Turmmauer und zündete sich eine Zigarette an. Ein Windstoß trieb ihm eine leere Getränkedose vor die Füße.
Ungeduldig blickte er auf seine Armbanduhr.