Mutter weint. Sie weint oft, seit Vater fort ist. Sie glaubt, dass ich sie nicht hören kann, aber sie ist nicht gut darin, die Menschen richtig einzuschätzen. Ich weiß nicht, warum sie das nicht kann. Papa, das weiß ich, hat es nie gekümmert, was sie gesagt hat, doch sie hat es nie glauben wollen.
Ich aber höre jedes Wort.
Ich sitze in meinem Zimmer und versuche, ihr Schluchzen zu ignorieren. Es gelingt mir nicht. Also nehme ich das Taschenmesser zur Hand, das Papa mir geschenkt hat, und klappe es auf. Schaue auf die Klinge. Fühle nichts dabei.
‚Du bist jetzt der Mann im Haus‘, sagt sie immer öfter und streicht mir über die Haare. Wie soll ich Mann sein mit meinen zwölf Jahren?, denke ich mir. Was muss ich tun, um ihre Tränen zu trocknen? Ich schaue noch immer auf die Klinge.
Ich weiß, dass ich nicht schwach sein darf.
Ich setze das Messer am Unterarm an und ziehe die Klinge zum Körper. Es tut weh, aber ich schreie nicht. Weine nicht. Schließe nicht die Augen. Blut sammelt sich an meinem Ellbogen und tropft langsam zu Boden. Meine Hände zittern nicht. Ich drücke die Klinge ein Stück tiefer. Jetzt schließe ich die Augen.
Aber ich schreie nicht.
Manchmal frage ich mich, wie viele Tränen ein Mensch weinen kann. Wie viele Tränen er weinen will. Ich weiß, dass ich nicht weinen darf. Ich muss der Mann im Haus sein.
Ich lege das Messer weg und schaue auf meinen Arm. Stehe auf und hole ein altes T-Shirt, das ich fest auf die Wunde drücke. Ich versuche, nicht an den Schmerz zu denken. Ihn nicht an mich heranzulassen. Ich will stark sein.
Ein Marienkäfer hat sich ins Zimmer verirrt und krabbelt auf dem Tisch. Ich lege meinen Zeigefinger dicht vor ihn, berühre ihn aber nicht. Warte, bis er auf meine Fingerspitze kriecht. Hebe meine Hand und beobachte, wie er über den Finger wandert. Als er wieder auf seiner Spitze hockt, schiebe ich den Daumen über den Käfer und drücke zu. Ich fühle nichts. Mutter weint im Nebenzimmer.
Stark sein heißt, nicht zu leiden, denke ich mir.
Sondern andere leiden zu lassen.