Der Jungbrunnen

Gastbeiträge

Written by:

Views: 1396

Viele sind, was den Balkan angeht, gänzlich unbeleckt, waren noch nie hier, verwechseln Rumänien mit Bulgarien, Bukarest mit Budapest oder das Balkangebirge mit den Karpaten. Und das, obwohl es auf dem Balkan so einiges zu entdecken gibt.

Bulgarien beispielsweise ist, was seine Bevölkerung angeht, das am schnellsten schrumpfende Land, ohne dass offiziell ein Krieg erklärt worden wäre oder gar stattgefunden hätte, und das weltweit. Junge Menschen verlassen das Land schon seit Langem in Scharen, sie suchen im Ausland nach Arbeit und Auskommen. Kinder werden in Bulgarien, wo man in dem Zusammenhang nicht von Emigration sondern von Evakuierung spricht, nicht mehr geboren und sind demzufolge auch nicht anzutreffen. Aktuell wurde ein Denkmal enthüllt, das daran erinnert, dass es einmal so etwas wie Kinder und Mutterschaft gab. Es zeigt eine Mutter mit ihren vier Kindern.

Lange habe ich überlegt, wie sich das Lebensgefühl in Bulgarien am besten beschreiben lässt, das so ganz anders ist als das in Berlin, wo ich mich immer öfter wie ein alter Mann fühle. Will ich in Berlin alte Menschen treffen, muss ich auf die „Ost-Pro“ gehen, eine Verkaufsmesse für Ost-Produkte, also wiederentdeckte Waren aus der ehemaligen DDR. Das Lebensgefühl in Bulgarien ist praktisch wie auf der „Ost-Pro“ – nur ohne Ostprodukte, weswegen ich auf den Begriff „Rentner-Messe“ gekommen bin. In Bulgarien ist jeden Tag Rentner-Messe, ich bin hier überall von alten Menschen umgeben. Es ist wie beim Hase und Igel: Sie sind immer schon da, die Alten.

Was auf dieser permanenten Rentner-Messe fehlt, das sind Stände mit allen möglichen Angeboten, beispielsweise den neuesten High-Tech-Pampers für Alte und ihre lästigen Vertreter, die einem immer irgendwas verkaufen wollen, zum Beispiel die neueste Kukident-Creme für die dritten Zähne. All das gibt es auf dieser Dauer-Rentner-Messe nicht. Wer sollte sich die neuesten High-Tech-Pampers und die Zahncreme für die dritten Zähne auch leisten können, wenn außerdem kaum noch einer überhaupt einen Zahn hat? Pampers wären prinzipiell eine Überlegung wert, denn man schwitzt besser alles aus, als auf eine hiesige Toilette zu gehen. So wie man nicht des Wetters wegen nach Berlin kommt, so kommt man nicht wegen der Toiletten nach Bulgarien. Das definitiv nicht. Dafür gibt es hier an jeder Ecke wohl sortierte Second-Hand-Läden mit abgelegter Kleidung aus Deutschland für wenig Geld, weswegen alle sie sich leisten können und auch tragen auf der Dauer-Rentner-Messe.

Ein weiterer Unterschied zur „Ost-Pro“ ist, dass ich hier nach dem Besuch nicht einfach in einen Park oder in den nächsten Supermarkt gehen kann, wo in Berlin ein praller Busen in einer offenen Bluse oder ein knackiger Hintern in einer hautengen Leggings auf mich wartet, was alles schön anzusehen ist, mich aber auch alt fühlen lässt. All das gibt es auf dieser Dauer-Rentner-Messe nicht. Auf der ist vieles nicht wirklich schön, so manches aber schön weich und schwabbelig oder zumindest stilvoll verwelkt. Dann das ständige Rauchen und Trinken, was beides sehr ernst genommen wird, also kein Spaß ist, aber eben auch alt macht und oft einhergeht mit mangelnder Körperpflege. Das ist leider auch wahr. Zum Glück gibt es den Knoblauch, den jeder Bulgare ständig zu sich nimmt, nicht nur aus Gewohnheit, sondern auch als Antibiotikum.

Auch ich esse viel Knoblauch hier, vor allem um meine Abwehr zu stärken, aber auch, weil ich das schon immer machen wollte, mich aber bisher nicht getraut habe, meiner Fahrgäste wegen. Fahrgäste gibt es hier auch nicht, dafür Menschen in deren abgelegter Kleidung. Kleider machen nicht nur Leute, sondern sind auch ein Stück Heimat. Inmitten gut und vollständig angezogener Menschen – halbnackte Berliner Hipster würden da nur stören – in Kleidern, die mich sogleich wie zuhause fühlen lassen, lässt sich ein schönes neues Leben beginnen. Ein Leben wie eine Frischzellenkur. Das ist keine Übertreibung.

Denn den Ort, der jünger macht, es gibt ihn. Viele haben von ihm geträumt, Wissenschaftler haben ihn erfolglos gesucht, und Maler vergeblich versucht, ihn in Bildern festzuhalten: Der Jungbrunnen – er existiert wirklich! Bulgarien, das kleine Land am Rande unseres Kontinents, ist ein wahrer Jungbrunnen. Wohin ich auch gehe, immer und überall bin ich der Jüngste. Und das schönste ist: Alle spielen mit, selbst wenn sie in Wahrheit nur älter aussehen. Keiner erweist sich als Spielverderber. Wie auch?

Verwandter Artikel:
Es gibt so ein Volk

Rumen Milkow: In meiner zweiten Heimat Bulgarien gibt es zwar auch keine Fahrgäste für mich, und es ist auch nicht alles möglich wie einst in Berlin, aber doch so einiges. Wo Nicken Nein und Kopfschütteln Ja bedeuten, kann Alt auch Jung machen. Allerdings ohne Garantie, oder wie man in Bulgarien sagt: „Garanzija? – Franzija!“. Wer Garantie will, muss nach Frankreich gehen.

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Rumen Milkow.

Comments are closed.