Bismarcks Fahrrad

Gastbeiträge

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Neulich war ich wieder einmal im Theater. Ich gehe nicht oft ins Theater, und wenn ich gehe, langweile ich mich. So auch diesmal. Dabei hatte das Theater noch gar nicht angefangen. Wir saßen in der Theaterkneipe, um –
Nun ja, meine Begleiterin (die eigentliche Triebfeder meines Theaterbesuchs) wollte sich auf das Stück einstimmen, und ich wollte es mir vorab mit einem Pils erträglicher machen, das Stück. Dass sich bereits zu diesem Zeitpunkt Langeweile breit machte, war kein gutes Zeichen. Ich sah verdrossen aus dem Fenster.

Und staunte! Man sollte viel öfter ins Theater gehen, vielmehr in die Theaterkneipe, und durch das Fenster auf den Platz hinaus schauen: Da lehnte gerade ein großgewachsener, korpulenter Herr, eine durchaus imposante Gestalt kann man sagen, ein Brocken von einem Mann mit Pickelhaube, Uniformrock und wilhelminischem Schnauzer – der lehnte sein Fahrrad an einen Laternenmast, sperrte es ab und überblickte gebieterisch den Platz.
Unschwer erkannte ich ihn sogleich wieder, ihn, der einen guten Teil der Sozialkunde- und Geschichtsbücher meiner Schulzeit geziert hatte: den Urheber der Sozial- und Sozialistengesetze, den Verfasser der Emser Depesche.

„Bin uff der Reise durch alle deutschen Landen“, bellte er militärisch knapp einen ebenfalls uniformierten Herrn an, ohne dass der ihn eigentlich danach gefragt hatte. Offenbar tauschen Uniformträger auf Blickkontakt und ohne Aufforderung lautstark die basalen Informationen über das Woher, Wohin und Warum ihres Daseins aus, damit sie wissen, woran und an wem sie sind. Ich kenne mich in solchen Dingen nicht allzu gut aus, ich trage ja keine Uniform.
„Bereise jerade alle Städte, in denen sich een nach mir benannter Platz findet, een Turm, een Denkmal oder derlei. – Janz schön stramme Leistung uff meine alten Tage“, fügte er augenzwinkernd hinzu, als ihn der angesprochene – oder vielmehr angebellte – Herr mit seinen dunklen Knopfaugen nach wie vor skeptisch und wortlos musterte.
„Aber jut für die Fijur, wa?“ Der Mannsbrocken klopfte sich mit beiden Handflächen auf den uniformierten Bauch, dass es nur so über den Platz hallte.

„Mit derrrrrlei Sperrrrrenzchen“, erhob nun doch noch der Herr mit den Knopfaugen unvermittelt die Stimme, und er erhob sie markiger und lauter, als der Mannsbrocken es offenbar erwartet hatte, so dass dieser erstaunt einen Schritt zurücktrat und nun seinerseits sein Gegenüber kritisch musterte: die eigenwillige Schnurrbartmode, den Seitenscheitel und die braune, an den Oberschenkeln etwas zu weit geschnittene Uniform. Ich hatte ihn längst wiedererkannt, den Uniformierten mit der Oberlippenzahnbürste und dem Seitenscheitel; auch er war mir seit meiner Schulbuchzeit von mehreren schulischen Disziplinen her durchaus geläufig.
„Mit derrrrrlei Sperrrrrenzchen“, wiederholte er noch rollender, indem er den Zeigefinger seiner rechten Hand effektvoll in die Luft über seinem Kopf bohrte, „mit derrrrrlei Sperrrrrenzchen geb’ ich mich erst gar nicht ab.“

Er wurde ruhiger; hätte er ein Stehpult gehabt, hätte er sich nun ganz nonchalant mit dem Ellbogen aufgestützt. „Da käm’ ich ja rrrrrein zu gar nichts und auf keinen grrrrrünen Zweig, wollt’ ich alle Städte bereisen, in denen es einst eine Straße oder einen Platz gegeben, die nach mir benannt waren.“
„Einst!“, schnitt ihm der Herr mit der Pickelhaube und den überdimensionalen Schulterklappen das Wort ab, indem auch er den Zeigefinger hob. „Einst, mein junger Herr. Das ist der Punkt. Einst. Es war ja zu Ihrer Zeit durchaus Usus, Straßen und Plätze nach Ihnen zu benennen, aber“, er tippte dem Braununiformierten auf die Brust, „wenn Se heutzutaje alle Städte bereisen wollten, wo es Straßen und Plätze jibt, die nach Ihnen heißen“, er nahm den Zeigefinger von der Brust seines Gegenübers und wedelte diesem damit nun vor der Nase herum, „da käm’n Se nich weit, wa?“

„Immerrrrrhin“, der Herr mit dem Seitenscheitel hatte bereits angefangen vor Erregung zu zittern, nunmehr blähte er die Brust und fuchtelte mit den Armen, „immerrrrrhin bin ich Ehrenbürrrrrger dieser Stadt, dieser deutschen Stadt, und das auch heute noch. Jawoll. Nach mirrrrr ist der deutsche Grrrrruß benannt, die deutsche Jugend. Selbst der Bart, den ich trrrrage, trrrrrägt meinen Namen. Was“, seine Stimme überschlug sich, „was, wenn ich frrrrragen darrrrrf, heißt denn schon so wie Sie, mein Herr? Ein Hering, mein Herr, ein marinierterrrrr Hering!“
„Na, na, na“, der großgewachsene Herr kratzte sich gemächlich unter seiner Pickelhaube. „Verjess’n Se mal nich det Archipel im Pazifik und die Hauptstadt von North Dakota. – Det liecht in Amerika“, fügte er nach einer Pause schmunzelnd hinzu, da sein Gegenüber schwieg.

„Was glotzen Sie denn so?“, herrrrrschte der Mann in Braun, während er nach einem geeigneten Gegenargument suchte, einen Herrn an, der offenbar von dem Geschrei angelockt worden war und einige respektvolle Meter von den beiden Uniformierten verharrte. Durch sein gedrungenes Äußeres, den Stiernacken und die rosige Gesichtsfarbe wirkte auch dieser Herr nicht unimposant, trug allerdings Zivil – und konnte also angeherrscht werden.
„Mei, i hob ma dengkdt“, der Herr näherte sich den Beiden und streckte ihnen leutselig die Hand entgegen, –
„Lejitimier’n Se sich erst ma!“ Auch der Herr mit der Pickelhaube erhob nun bedrohlich die Stimme, so, wie man es Zivilisten gegenüber als Nicht-Zivilist eben tut.
„Wiss’n’s, i bin in dera Stadt da verstor’m.“
„Wat Se nich sajen.“ Der Herr mit der Pickelhaube tippte nervös mit dem Fuß und zog gefährlich die Augenbrauen zusammen zum Zeichen, der Herr in Zivil möge sich im Umgang mit Militärpersonen auf das Wesentliche beschränken und nicht unnötig schwafeln.
„Und da hindt’“, der Herr in Zivil wies mit der Hand in Richtung Gesandtenstraße, „da ham’s hernach a Allee nach mir benanndt.“
Eine – Allee?“ Der Braununiformierte betonte spöttisch zunächst das eine, dann das andere Wort.
„Na ja, koa Gass’n oda Straß’n, sondern a Allee.“
„Is det alles? Eene Allee – in eener Stadt.“ Der pickelhauben- und schulterklappenbewehrte Herr brachte einerseits seine Geringschätzung zum Ausdruck, beharrte aber gleichzeitig auf preußisch lückenloser Vollständigkeit des Rapports.

„Nah, nah. Da Flughaf’n z’ Minga –“
Der Münchener Flughafen! Richtig, jetzt fiel auch mir wieder ein, woher ich den stiernackigen Herrn mit den feisten Pausbacken kannte. Er hieß so wie der Münchener Flughafen.
Der Braununiformierte erbleichte: „Sie meinen, in der Hauptstadt der Bewegung?“
„Der ehemalijen Hauptstadt, bitte“, präzisierte der Mann mit dem wilhelminischen Bart, um zu demonstrieren, dass er Besonnenheit und Fassung bewahrte. Aber auch ihm war unter seiner Pickelhaube heiß geworden:
„Een Flugplatz, sajen Se?“
Es klingelte. Schon zum zweiten Mal. Meine Begleiterin zupfte mich am Ärmel, beziehungsweise zog mich an diesem aus der Kneipe und in den Theatersaal. Das nächste Mal, wenn ich mir ein Bier bestelle, solle ich es auch austrinken und vielleicht ein bisschen kommunikativer sein, statt apathisch aus dem Fenster zu starren, meinte sie.

Das Theaterstück sei kein schlechtes gewesen, las ich hernach in der Presse. Ich habe nichts davon mitbekommen, da meine Gedanken unaufhörlich im Kreis um die drei Männer auf dem Platz und ihr Gespräch herumliefen. In der Pause gab es dann kein Halten mehr für mich: Ich stürzte hinaus auf den Platz –
Fort; die drei waren verschwunden. In immer größeren Kreisen umstreifte ich den Flecken, auf dem sie sich unterhalten hatten. Keine Spur von ihnen. Womöglich führten sie ihr Gespräch in einem der umliegenden Lokale weiter. Aber weder in der Neuen Filmbühne, noch in Falks Weinstube, im Luka oder schließlich wieder in der Theaterkneipe waren sie zu finden, so sehr ich auch in den hintersten Winkeln und selbst den Toiletten suchen mochte.

Zuletzt befand ich mich wieder an der Stelle, wo zuvor die drei Männer gestanden hatten. Es war mittlerweile spät am Abend und der Platz praktisch menschenleer. Die Theatervorstellung war längst zu Ende und meine Begleiterin nirgendwo zu sehen. Nur das Fahrrad lehnte noch an der Laterne: ein modernes Leichtmetall-Fahrrad mit 18 Gängen und einem geschwungenen Lenker. Noch dazu ein Damenrad. Das hätte ich nicht erwartet gehabt. Man erlebt doch immer wieder Überraschungen in dieser Stadt.

Aus:
Dieter Lohr: Bismarcks Fahrrad. Geschichten aus Regensburg. Spielberg Verlag, 2010

Dieter Lohr. Hörbuchverleger, Schriftsteller, Dozent für Medienwissenschaft sowie Deutsch als Fremdsprache. Lebt in Regensburg. Jüngste Buchpublikation, Juli 2020: »Ohne Titel. Aquarell auf Karton. Unsigniert.«
Bismarcks Fahrrad
Spielberg-Verlag

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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