Eine Art von Blau

Gastbeiträge

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Die Stille ist transparent und gestaltlos. Die Anspannung vor dem ersten Take sättigt die Luft in der ehemaligen Kirche an der 30th Street von New York. Julian Adderley, den sie wegen seiner rundlichen Figur „Cannonball“ nennen, atmet schwer durch die Nase; sein Altsaxophon reflektiert immer wieder das grelle Licht der herabhängenden Deckenlampen – in bestimmten Momenten schießen dann goldene Blitze während kleiner Bewegungen des Instruments quer durchs Studio.

Die Stille lastet, sie drückt, sie bedroht, sie lauert, sie wartet tückisch, sie ist ein schneidendes Rasiermesser, eine seidene Schnur um den Hals der Musiker. Aber die Angst der Musiker vor dem ersten Einsatz vermischt sich schon mit jener gespannten Erwartung, die jedes Mal dem Eintritt in das verwunschene Märchenland vorangeht. Die Zauberer warten schon im Land Oz, dort unter dem Regenbogen, und die Zauberer kennen die Zukunft. Die Jazzmusiker aber sind gern gesehene Besucher in jenem Land, denn auch sie haben Ahnungen von den Geschehnissen des Kommenden; die Jazzmusiker sind – wie man weiß – entfernte Verwandte der Zauberer, entfernte Nachfahren von Druiden und Sehern, von Priestern, Propheten und Anachoreten. Und auf diese Weise ist es erklärbar: Auch wenn die unbelebten Dinge noch unbelebt sind, wenn die grauen Studiowände noch starr schweigen – ein Schimmer leuchtet immer schon hinter der Stille, ein unbestimmtes Etwas wirft immer schon einen Vor-Schatten auf das verworrene Setting aus Kabeln und Mikrophonen und Sesseln und Notenständern; und immer breitet sich eine Ahnung aus, die der seherischen Ahnung der Katze vom herannahenden Unwetter gleicht. Und das Unwetter kann die monatelange Dürre beenden, und das Unwetter kann die Erlösung sein.

Und plötzlich geschieht es: Der rechte Unterarm des Bassisten rutscht in eine Bewegung hinein, er nähert sich dem Korpus aus geflammtem Ahornholz, und im hohen kahlen Aufnahmeraum des Columbia 30th Street Studios tippt die mächtige schwarze Hand von Paul Chambers auf die Stahlsaiten seines Kontrabasses.

Wie erstaunte Tote, die sich am Tag des Jüngsten Gerichts in ihren Gräbern aufrichten, so erheben sich zwei dunkle Viertelnoten aus der glatten Oberfläche der vollkommenen Stille. Sie erheben sich so verblüfft, wie sich Tote nach tausendjährigem Schlaf erheben – oder wie sich schlafwandlerische Gliederpuppen aufrichten, fragend und majestätisch, nachdem ihnen ein großer Magier soeben das ewige Leben eingehaucht hat. Die Töne tropfen wie geschmolzenes Erz auf den Boden des Raums, schwer und voluminös, dann warten sie das akkordische Echo ab, das irgendwo aus den Tiefen von Bill Evans‘ Klavier schwebt, und dann vibriert das geflammte Ahornholz erneut. Die erweckten Schlafwandler, die auferstandenen Klänge, schreiten langsam und müde, aber sie sind jetzt auf dem Weg – und das ist das Mindeste, was man sagen kann. Manchmal knicken die Töne weich in den Knien ein, aber sie raffen sich auf, denn sie wissen, dass sie Wanderer auf einer verordneten Pilgerschaft sind. Die Mission, die die Noten zu erfüllen haben, führt sie geradewegs in die unwägbaren Geheimnisse der tintenblauen warmen Frühlingsnacht. Auf dem Kalender steht das Datum: 22. April 1959. In der Ferne, jenseits der blauen Schwärze, warten die gelben Neonlichter am Broadway. Und jetzt ordnen sich die Klänge langsam und stetig und unaufhaltsam; sie durchqueren jene Verlassenheit, die am Ende der Welt regiert, sie steuern geradewegs in das innerste Ich, wo alle Formen der Einsamkeit und der Hoffnung und der Liebe hausen. Flamenco Sketches wird der Bandleader später das Stück nennen, aber was sind schon Namen? Und zwei Straßen vom Columbia Studio entfernt tritt ein Mann in einem schäbigen Anzug und im zerknitterten Hemd aus der Tür einer Bar in die Schwärze hinaus, und in derselben Sekunde flutet das gleißende Licht aus der offenen Tür, und für einen Augenblick steht der Mann wie ein regloser Heiliger, ganz umhüllt vom strahlenden Lichtkranz der göttlichen Helligkeit.

Dietmar Horst, geboren 1962 in Zams (Tirol), lebt als freiberuflicher Fußgänger in Salzburg. Er veröffentlichte fünf Bücher, darunter einen Lyrikband und eine Biografie.
Zuletzt erschienen: „Der römische Centurio“ (Monografie), Verlag Bernhard Albert Greiner, Grenzach-Wyhlen, 2020.
Dietmar Horst bei Literaturport

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Dietmar Horst, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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