Die Nöte des Herrn Professor Streusam

Gastbeiträge

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In sich versunken eilte Professor Streusam am Lehrgebäude F vorüber.
„Herr Professor!” riefen da die Studierenden von der Eingangstür her. „Hallo, Herr Professor, hier sind wir.”
„Jaja, ich weiß schon, dass ihr da seid. Denkt ihr, ich bin blöd? Ich will nur eben noch zum Briefkasten.”
Wo hatte er nur wieder seinen Kopf, der Herr Professor … Wenigstens war er nicht faul im Erfinden von Ausflüchten. Schon stand er vor dem Briefkasten. Was sollte er nur hineinwerfen? Einen Brief hatte er nicht zufällig dabei? Er kramte in seiner Mappe. Nein, kein Brief, auch nichts Entbehrliches, wie er beim Durchblättern seiner Dokumente feststellte. Das Notizpapier hatte er auch vergessen.

Egal, nur sich keine Blöße geben; die Studierenden spähten gewiss neugierig über den Zaun und verfolgten gespannt jede seiner Regungen. Er ergriff also beherzt das am wenigsten unentbehrliche seiner Papiere und warf es in den Briefschlitz. Nach einigen Schritten auf das Lehrgebäude F zu blieb er freilich wieder stehen. Was hatte er nur eben in den Briefkasten geworfen? Er mochte sich einfach nicht entsinnen. Hoffentlich nicht das Vorlesungsskript; das wäre fatal.

„Also, meine Damen und Herren Studierende –” begann er, als er vor den Studierenden stand.
„Aber Herr Professor. Wir sind doch gar nicht Ihre Studierenden. Erst heute Nachmittag wieder. Jetzt haben wir Seminar bei Herrn Professor Paulmann.”
„Elendes Pack.” verabschiedete sich der Herr Professor, machte auf dem Absatz kehrt und strebte dem Lehrgebäude A zu – insgeheim froh für den Fall, dass er wirklich das Vorlesungsskript in den Briefkasten geworfen haben sollte.
Den Studierenden blieben vor Staunen einen Moment lang die Münder offen stehen. Sodann schluckten sie mühsam das Kichern hinunter, das ihnen bereits die Hälse hinaufstieg, und schlichen auf Zehenspitzen in die entgegengesetzte Richtung von hinnen. So leicht verschafften sie sich selten einen freien Vormittag.

Dieter Lohr. Hörbuchverleger, Schriftsteller, Musiker, Dozent für Medienwissenschaft sowie Deutsch als Fremdsprache. Lebt in Regensburg. Jüngste Buchpublikation, Juli 2020 »Ohne Titel. Aquarell auf Karton. Unsigniert.«
Dieter Lohr
In Glad Company

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Dieter Lohr, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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