Wenn wir Menschen, Landschaften sehen, dann nehmen wir nicht wahr, wer vor uns steht, was uns gezeigt wird, was sich vor uns ausbreitet, sondern wir interpretieren. Wissen, Geschichte, alles, was wir vorher schon angeschaut und erlebt haben, sehen wir. Das schränkt uns ein und unser Wissen wird auf Dauer nicht vielfältiger. Meran sehe ich, bevor ich je dort war, als den Ort, an dem mein Onkel Heinrich an einem Tisch saß und vier Notizbücher vollschrieb. Ehe er sich in den ersten von vielen Zügen setzte, um am südlichsten Küstenrand von Apulien ein Schiff zu suchen. Um in ein Land ohne deutsche Soldaten und Mörder fliehen zu können.
- In Hamburg losgefahren war er mit einer unauffälligen Aktentasche. In Meran kaufte er einen kleinen braunen Koffer. Er gab sich als Tourist oder Kaufmann, wollte sich bekannt machen und begegnete überall bis 1945 deutschen Soldaten und Verbündeten des Deutschen Reiches. Er konnte nie ein Ausflügler werden. Er war nie und nirgends sicher. Er musste sehr genau hinschauen. In jedem anderen Menschen sah er eine Gefahr für sich. Auch in sich selbst. Wie musste er sich benehmen, um wie ein normaler Tourist, ein Kaufmann zu wirken. Was sollte er antworten, warum er da war, wo er war? Was suchte ein Hamburger Kaufmann in Meran? Er dachte sich immer wieder neue Geschichten aus. Auf jeder Station seiner Reise. Wie hat er das ausgehalten?
Seinen kleinen braunen Koffer packte er so lange um, bis er fast leer war. Er sollte nichts enthalten, was verriet, dass er auf der Flucht war. Aber die Notizbücher, von denen er sich nicht trennte, hätten ihn immer verraten. Kein Ausflügler, kein arischer deutscher Kaufmann, der durch Italien reiste. Kein Mann, der ein Geschäft abschließen wollte. Der erfundene Geschäftsbrief an eine italienische Reederei in Livorno hätte ihn nicht gerettet. Keiner, der sich mit irgendwem treffen wollte. Keiner, der erklären konnte, warum er sich da aufhielt, wo er gerade war. Zu wenig Geld, um viel herzumachen. In den Restaurants immer an den kleinen Tischen im Durchgang. Heinrich Heldt. Sorgfältig gekleidet. Immer mit Hut. Immer mit einem Notizbuch und einem Stift in der Jackentasche. Einmal von Hamburg nach Burma, Macao und zurück. Soweit bin ich nicht gekommen und manchmal bin ich gar nicht losgefahren, obwohl ich reisen wollte, jeden Schritt geplant hatte, alles wusste. So kam ich nie nach Triest, nie nach Halifax und Grönland, dafür landete ich in Långasjö, mitten im schwedischen Glasland und endlosen Wäldern. Oder im lettischen Ventspils. In Bloemendaal und Lunéville, am Neusiedler See und in Averas da Cima, in Friedrichskoog und der Judäischen Wüste. Aber nicht in Halifax und auf der Victoria Insel, wo ich unbedingt hinwollte. In Montreal, im Flughafen, beim Boarding, führte der eine Gang zum Flieger nach Frankfurt, der andere zum Flugzeug nach Halifax. Da stand ich auf der Mittellinie. Bis nur noch ich übrig war. Alle anderen Passagiere saßen auf ihren Plätzen. Zuerst wurden Menschen mit Behinderungen ins Flugzeug begleitet, dann Frauen mit Kindern, dann Männer mit Kindern, erst dann wurde der Gang frei gegeben mit der Bitte nicht zu drängeln. Bevor dieses Prozedere startete, fragten die Flugbegleiterinnen ab, wer koscher, indisch, ohne Schwein, ohne Fleisch essen wollte.
Nur ich war noch übrig, tippelte links und rechts der weißen Linie. Halifax. Frankfurt. Nein, umbuchen Halifax. Halifax. Aber in Frankfurt stand jemand und wartete auf mich. Halifax. Dann Victoria Inseln. Dann Grönland. Die Flugbegleiterin, die das Besteigen der beiden Flugzeuge gemanagt hatte, berührte meinen Arm: Kommen Sie. Fliegen Sie nach Hause. Ich folgte ihr bis zu meinem Platz. Und begann eine Reise nach Halifax zu planen. Ich war nie dort. Aber ich kenne die Stadt. So wie ich alles über Meran 1939 weiß.
J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Nachtzüge. Gedichte und gefundene Zettel“ (Geest-Verlag 2021), „Der Mann ohne Hände“ (zusammen mit Monika Detering, Geest-Verlag 2020), und „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020).
J. Monika Walther
Nachtzüge
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