Courage

Aus dem Alltag

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In jenem Moment, da Hannah Prokop aus der Haustür trat, schrie ein Kind nach seiner Mutter, schrill, hart, fuhr ihr der Schreck in die Seele, ins Herz, in die Fingerspitzen. Zwei Tauben flatterten auf, stießen ihren Ruf in die Winterkälte, flogen über die Mauer, die das Areal des Gemeindebaus vom Nachbargrundstück trennte, verschwanden, zwei Straßen weiter, hinter den rostroten Dächern einer Industriebrache. Hannah Prokop wandte den Kopf, hob ihn. Sah die Frau.

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff. Die Frau. Barfuß. Auf dem Fensterbrett. Im vierten Stock. Die Zehen, die über den Rand ragten. Der Vorhang, den ihr ein Windstoß ins Gesicht schlug, an die Brust, die nackten Schenkel. Ihre Arme, die, zur Seite gestreckt, zitternd nach Halt suchten. Eine Kinderhand, die aus dem Fenster schoss, nach der Mutter griff, es gelang nicht. Und wieder: ein Schrei. Hannah Prokop lief.

Sie lief nicht weit, zehn Meter bloß. Stand unter dem Fenster der Frau, als sie hielt. Hob den Kopf, sah auf, rief: Warum?
Verschwinden Sie! sagte die Frau. Schrie es. Weinte.
Hannah Prokop bewegte sich nicht. Warum? fragte sie, ruhiger jetzt.
Gehen Sie! kreischte die Frau. Hob den rechten Fuß, er zitterte. Hannah Prokop wich nicht. Stellte ihre Handtasche auf den Boden, wandte den Blick nicht ab von der Frau. Breitete die Arme aus. Fragte: Warum?
Die Frau sagte nichts, senkte den Fuß wieder, sprang nicht, weinte.
Den Kopf in den Nacken geworfen, die Arme weit von sich gestreckt, stand Hannah Prokop unter dem Fenster eines Gemeindebaus, sah nach oben, bemerkte die Menschen nicht, die sich einfanden neben ihr, war taub für die Sirene, die sich durch die Stille eines trüben Wintertags schnitt.

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