Genötigt

Aus dem Alltag

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Ich kann das nicht, dachte sie. War sich nicht bewusst, ob sie es auch gesagt hatte, wusste nur, dass es stimmte. Ich kann das nicht, sagte sie also, stieß die Worte ins Telefon als gelte es, sich ihrer zu entledigen, sie loszuwerden wie einen Dorn, der im Fleisch steckte, oder ein Geständnis, das längst überfällig war. Der Bruder am anderen Ende der Leitung schwieg. Du musst, sagte er nach einer Weile, die durch nichts zu füllen war als nackte Ausweglosigkeit. Die Frau zögerte.
Sagte: nein.

Die Dinge im elterlichen Haushalt, einem Haushalt, in dem keines der beiden Geschwister mehr lebte, seit Jahrzehnten nicht mehr, hatten sich zum Schlechten gewendet. Die Demenz der Mutter schritt voran, legte Ängste in ihr frei, deren Wurzeln im Dunkeln lagen, deren Blüten aber das helle Licht der Aufmerksamkeit suchten. Ihre Krankheit bestritt sie, verneinte sie mit destruktiver Vehemenz, sah in ihr nur den Makel der Idiotie, sagte bloß, wieder und wieder: Steckt mich nicht ins Heim, ich bin nicht verrückt. Ihre Medikamente nahm sie nicht.

Es war Sonntagmorgen, da die Nachricht kam: der Vater im Krankenhaus, die Mutter allein. Einer von uns muss zu ihr, sagte der Bruder, wartete. Er wirkt ruhig, dachte sie, kämpfte selbst mit der Panik und der Hilflosigkeit, die in ihr aufstiegen. Du weißt, dass sie mich nicht leiden kann, sagte sie. Seit Jahren spricht sie kaum ein Wort mit mir. Sie räusperte sich, meinte: Sie müsste längst in einem Pflegeheim sein. Was Mutter braucht –
Ihr Bruder unterbrach sie. Einer von uns beiden muss zu ihr, meinte er. Jetzt.
Sie schloss die Augen, sagte nichts.
Na gut, meinte der Bruder. Daniela und ich werden fahren. Wenn es nötig ist, können wir drei Tage bleiben. Er machte eine Pause, fügte hinzu: Vielleicht ist Vater dann wieder zu Hause. Er wirkt so beherrscht, dachte sie, wie bringt er das fertig? Vielleicht, wiederholte sie. Sagte: danke.

Drei Tage später der Anruf des Bruders. Sie schlich aus dem Großraumbüro, in ein Besprechungszimmer, das leer war, nahm das Gespräch entgegen, angstvoll. Er kommt erst morgen aus dem Krankenhaus, sagte der Bruder. Oder übermorgen.
Sie schwieg.
Du musst uns ablösen, sagte der Bruder, wartete.
Ich kann das nicht, dachte sie. War sich nicht bewusst, ob sie es auch gesagt hatte, wusste nur, dass es stimmte. Ich kann das nicht, sagte sie also. Der Bruder am anderen Ende der Leitung schwieg. Du musst, sagte er nach einer Weile. Die Frau zögerte, hörte nur die Stille, die ihr ins Ohr brüllte. Sagte: nein. Und: es tut mir leid, ich kann das nicht, bitte versteh.
Legte auf.

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