Es ist dunkel, als die Maschine zum Sinkflug auf Dublin ansetzt. Keuchend habe ich den Anschluss in Heathrow geschafft, die indischen Zollbeamten in ihren neuen Brexit-Glashäuschen verwünschend. Nun hängt der Gin Tonic, den die überschminkte Stewardess mir serviert hat, wie ein Nebel in meinem Kopf. Mein Koffer scheint mir schwerer, als ich ihn endlich vom Rollband hebe. Auf der Autobahn rasen die letzten Mercedesfahrer an mir vorbei Richtung Norden, dann biege ich in die nächtliche Dorfstraße ein. Im Haus ist es klamm. Heizung anstellen, Post durchsehen, ein Glas Rotwein einschenken. Auspacken. Der Koffer ist nicht nur schwer, sondern auch warm. Von der Autoheizung, denke ich. Zuoberst liegt meine Tagungsjacke hoffnungslos zerknittert, an den schwarzen Jeans kleben Haare, darunter – ich erkenne ihn sofort, obwohl er die Ohren angelegt, die Hinterläufe eingeklappt hat.
Der Kongress in Uppsala hat meinen Erwartungen entsprochen. Die Namensschilder auf dem Registrationstisch waren von den freiwilligen Helferinnen zu Haufen verknäuelt worden. In der Aula nahmen die Delegationen ihre angestammten Plätze ein, die Chinesen vor der barocken Balkonbrüstung, die einen eindrücklichen Fotohintergrund bot, die Franzosen im Glitzern der Kristallleuchter, die Deutschen in der linken hinteren Ecke. Die Afrikaner in ihren farbigen Tüchern hockten sich auf die Stufen der Haupttreppe. Ich setzte mich am Rand einer Reihe neben einen Herrn mit markanter Nase. Er trug ein braunes Samtjackett und hatte sein gelocktes Haar zu einem Rossschwanz zusammengebunden. Ich versuche stets, einen Platz in der Nähe eines Ausgangs zu finden, falls die Debatten allzu langfädig werden, und auch diesmal schlüpfte ich im Verlauf der dritten Session, in der die türkische Delegation die Freilassung von Journalisten forderte, aus dem Saal. Ich wollte mir den berühmten botanischen Garten anschauen. Doch die schwedischen Wegweiser führten mich in die Irre, und da sah ich ihn. In langen Sprüngen lief er über die Straße, von links nach rechts, einen Moment später von rechts nach links und dann auf dem Gehsteig, bis er mit einem Haken im Gebüsch verschwand.
Mit zitternden Schnauzhaaren blickt er über den Kofferrand. „Die irische Gastfreundschaft soll legendär sein.“
„Verzeihung. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
„Salat?“
Im Schein der Taschenlampe finde ich eine letzte Endivie im Gemüsebeet.
„Cichorium endivia“, stellt der Hase fest, als ich ihm die gewaschenen Blätter hinstellte.
„Sie kennen sich aus?“
„Meine Familie hat mit Carl von Linné zusammengearbeitet.“
„Deshalb habe ich Sie vor dem botanischen Garten gesehen.“ Ich fülle mir Rotwein nach.
„Der Garten wird von Experten aus der ganzen Welt besucht.“
„Ich war wegen eines Kongresses in Uppsala.“
Am zweiten Tag klafften die ersten Lücken in den Sitzreihen der Aula. Von der englischen Delegation war nur ein korpulenter Herr anwesend, auf dessen Krawatte Reste von Spiegeleiern klebten. Die chinesische Delegation war vollzählig und saß nun auf dem Balkon. Der Herr mit der markanten Nase nickte mir zu, als ich neben ihm Platz nahm. Das erste Traktandum war ein Forderungskatalog der afghanischen Delegation bezüglich Mädchenschulen. Während der palästinensischen Power Point Präsentation kamen der Herr und ich ins Gespräch, und in der Mittagspause setzten wir uns mit unseren Lunchpaketen auf eine Bank vor dem Universitätsgebäude.
„Es wird immer schwieriger“, meinte er und versuchte die glitschige Tomatenscheibe in seinen Tofu-Burger zurückzuschieben.
„Heutzutage …“ Ich hatte das nicht-vegetarische Paket gewählt und schämte mich für den Rohschinken, der nun in Fetzen aus meinem Wrap hing.
„Mit Ideologien, Ethnien, Gender, Fake News.“ Die Spitzen seiner weißen Halsbinde ragten aus seinem Samtjackett.
„Auch im Alltag.“ Ich überlegte, ob ich den Nussriegel auspacken sollte, aber waren Vegetarier nicht oft auch Allergiker?
„Gerade im Alltag sollte unser Denken viel –“, er suchte nach einem Wort.
„Genau.“ Einen Augenblick überlege ich, ob seine zusammengebundenen Locken eine Perücke sein könnten.
„Sie wissen, was ich meine?“
„Natürlich.“
„Das Wort beginnt mit p.“
„Petroselinum crispum.“
„Wie bitte?“ Der kauende Hase ist schwer zu verstehen.
„Petersilie passt gut zu Endivie. Zudem regt es die Nierenfunktionen an.“
Schuldbewusst stelle ich mein leeres Rotweinglas in die Spüle, bevor ich nochmals in den nächtlichen Garten gehe.
„Linné muss ein interessanter Mann gewesen sein.“ Ich habe die schon etwas krautige Petersilie auf einem Glasteller arrangiert.
„Kompromisslos. Jede Spezies bekam einen Gattungsnamen und ein Artepitheton. Solanum linnaeanum, Lepus europaeus.“
„Homo sapiens“, füge ich hinzu.
„Biologisch überzeugend.“
Die Resolution der amerikanischen Transgender-Delegation fällt mir ein. „Heutzutage wird es immer schwieriger mit Ideologien, Ethnien, Gender, Fake News –“
„Im Hause Linné“, unterbricht mich der Hase, „wurde zur Petersilie stets ein Glas Portwein serviert.“
Einen Augenblick überlege ich, ob er sich lustig macht über mich. Im Küchenschrank finde ich eine halbvolle Flasche.
„Ich wusste nicht, dass Sie …“
„Wir wissen vieles nicht“, meint mein schwedischer Gast, nachdem er sich den Portwein von seinen Schnauzhaaren geputzt hat. „Deshalb sollten wir im Alltag viel pluralistischer denken.“
Gabrielle Alioth wurde 1955 in Basel geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Basel und Salzburg und war als Konjunkturforscherin tätig. Seit 1984 lebt sie als Schriftstellerin in Irland. Neben Romanen publiziert sie Kinder-, Reise- und Sachbücher sowie Lyrik auf Englisch, arbeitet journalistisch und gibt Schreibkurse.
Zuletzt erschienen: „Seapoint – Strand“, Caracol Verlag, 2022
Gabrielle Alioth
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Gabrielle Alioth, die Bildrechte bei Doris Lipp.