Reisen zwischen Buchdeckeln

Gastbeiträge

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Ich bin in einem typischen Wiener Substandardbau aufgewachsen. Mit Bassena im Flur und „indischem Klo“ (jenseits des Ganges). Mein Vater wohnte im 4. Stock einer Margaretner Zinskaserne in einer klassischen Zimmer-Küche-Wohnung, als er meine Mutter aus dem Niederösterreichischen in die Hauptstadt holte, und exakt diese Bleibe diente auch mir als Wohnstatt. Was konkret bedeutete, dass mein Bett im Vorzimmer aufgestellt wurde. Ich hatte also die Wohnungstür zum Fußende meiner Schlafstatt, am Kopfende gab es ein vergittertes Fenster mit Blick auf die Sonderstrafanstalt Mittersteig. Ich erinnere mich, dass ich oft an diesen Stäben hing und zu erkunden suchte, ob nicht auch gegenüber jemand durch sein Gitter linste – ein Gefangener vielleicht, eingeengt wie ich.

Und da ich weiter nichts zu tun hatte, suchte ich alsbald krankhaft nach einer Beschäftigung. Ich durchforstete Küche und Zimmer nach Interessantem und stieß auf Vaters Bibliothek. Fein säuberlich standen die Bücher aufgereiht auf dem Nachtkästchen. Alle drei. Oder waren es fünf? Ich war jedenfalls fünf, als ich mich bemühte, die darin enthaltenen Texte zu entziffern. Es dauerte ermüdend lange, doch wenn ich etwas hatte, dann war es Zeit. Und die Zeilen setzten etwas in mir in Gang, das eine völlig neue Erfahrung für mich war. Das erste Buch, das ich bezwang, war die von Gustav Schwab zusammengestellte Sammlung von Sagen des klassischen Altertums, und ehe ich es mich versah, weilte ich unter den griechischen Helden vor Troja.

Ich nutzte die Abwesenheit der Mutter – war sie in der Waschküche oder beim Einkauf, wer vermag es noch zu sagen? – und stahl mich in den Lichthof, der kaum größer war als mein Vorzimmer. Doch dort standen die alten, kreisrunden Mülltonnen aus Blech, die nach ihrem Herkunftsort Coloniakübel genannt wurden. Bei einem war vor langer Zeit schon der Deckel abgegangen, der daraufhin wie bei einem Topf einfach draufgesetzt wurde. Er wurde mein Schild. Ich schraubte den unteren Teil des Besens ab, und sein Stiel wurde mir zum Speer. Und die Mauer, die unseren Innenhof von jenem des Nachbarhauses schied, sie war Ilions Wall, den es zu erstürmen galt.

Die gute alte Mauer, sie musste in viele Rollen schlüpfen. Etwas später war sie zinnenbewehrtes Wormser Bollwerk, vor dem ich mit Hagen von Tronje und Volker von Alzey darauf wartete, dass die Könige gen Ungarland zogen, um Etzel, den neuen Schwager zu treffen.

Ich stellte fest, dass die Welt unendlich viel größer war als jene vier Quadratmeter, in denen ich mich üblicherweise aufhielt. Und endlich hatte auch ich jede Menge Freunde. Ich befuhr mit Huckleberry Finn den Mississippi, machte mich mit David Balfour auf, die schottischen Highlands zu durchstreifen und lernte mit Rodrigo Diaz der südlichen Sonne Iberiens zu widerstehen.

Eigentlich hat sich für mich seit jenen fernen Tagen nicht viel geändert. Jedesmal, wenn ich mich auf ein Buch einlasse, ist es der Beginn einer Reise, ein Eintauchen in eine neue Welt. Es spielt mittlerweile keine Rolle mehr, ob ich mich auf die Rolle des Lesers beschränke oder aber selbst der Erzähler bin, denn auch dann weiß ich erst einmal nicht, wohin die Reise geht. Wir alle, die wir lesen und schreiben, sind die Entdecker unseres eigenen Universums, und das wird sich nicht ändern, solange es Bücher gibt.

Andreas Pittler wurde 1964 in Wien geboren. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft ebendort (Mag. & Dr. phil), 1985 erste Buchveröffentlichung, zuerst historische Sachbücher, ab 2000 vermehrt Belletristik. Einzelne seiner bislang 64 Werke wurden in insgesamt acht Sprachen übersetzt.
2006 Silbernes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, 2016 Verleihung des Berufstitels „Professor“.

Publikationen zuletzt: Geschichte Irlands. Papyrossa, Köln 2022; Immer, wenn sie Krimis schrieben – eine Ermittlung in Sachen Kriminalroman. Drava, Klagenfurt 2022.
Publikationen 2023: Kärntner Finale. Gmeiner, Meßkirch; Geschichte der Türkei. Papyrossa, Köln.
Andreas Pittler

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Andreas Pittler, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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