Der Zufallsforscher

Gastbeiträge

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„Ich liebe den Zufall“, sagt Lorenzo, „er macht mir jeden Tag Geschenke.“
Der Mann, der das sagt, hat mich an einer Bushaltestelle angesprochen, seinen Namen genannt und sich als Zufallsforscher vorgestellt. Lorenzo ist ziemlich bunt gekleidet, er trägt Blue Jeans, dazu ein dunkelgrünes Sakko über einem roten Hemd. Seine Schuhe sind verschiedenfarbig, der eine hell-, der andere dunkelbraun. Ich bin zuerst ein wenig misstrauisch, aber Lorenzo wirkt nicht unsympathisch, außerdem will ich gerne wissen, was ein Zufallsforscher ist.

„O, das kann jeder sein“, sagt er bescheiden, „man muss nur die Augen offen halten. Jeder Tag bietet etwas Überraschendes, ich weiß schon heute, dass es morgen wieder so sein wird. Vielleicht treffe ich einen Freund, den ich jahrelang nicht mehr gesehen habe. Oder ich komme mit einer hübschen Unbekannten im Supermarkt ins Gespräch. Oder ich finde auf dem Bordstein einen eleganten Kugelschreiber, der wunderbar schreibt.“
„Na ja“, sage ich, „das kennt man, aber es ist doch ziemlich banal.“
„Keineswegs!“ Er sieht mich durchdringend an, unter seinen buschigen Augenbrauen leuchten seine Augen auf. „Sie müssen sich klar machen, welche Tragweite das hat. Dem Zufall gehört die Welt, das lässt sich beweisen. Nehmen Sie irgendein Beispiel – nehmen Sie die Geschichte mit Joachim Gauck. Wissen Sie noch, vor zehn Jahren? Dass Gauck damals Bundespräsident geworden ist, verdankt sich einer Reihe völlig unvorhersehbarer Ereignisse. Bei der ersten Wahl hat’s nicht geklappt und für Gauck schien der Traum schon ausgeträumt. Hat irgendjemand ahnen können, dass Christian Wulff einige Zeit später sein Präsidialamt so vermasseln würde und Gauck eine zweite Chance bekommt?“
„Gut, die Sache mit Gauck war verblüffend“, sage ich, „aber die meisten würden in diesem Fall eher von Schicksal sprechen.“
„Aha“, sagt Lorenzo und streckt den Zeigefinger aus, „Schicksal!“ Er klimpert mit den Fingern auf seiner Stirn wie auf einem Klavier und lächelt wissend. „Das klingt vornehmer, nicht wahr? Wenn etwas Schicksal ist, dann hat es Gewicht, dann glauben wir daran – den Zufall dagegen belächeln wir eher. Aber das ist ungerecht und geht an der Realität vorbei. Ich glaube nicht ans Schicksal, an eine Vorsehung, die mein Leben steuert, ans blinde Fatum, dessen Launen und Schlägen ich wehrlos ausgesetzt bin. Nein, ich weiß, dass es unerwartete Glücksfälle gibt, dass immer etwas möglich ist, womit niemand rechnet.“
Wortreich erklärt er mir, warum der Zufall für die Menschheit so wichtig sei, wie viele Erfindungen sich ihm verdanken, zum Beispiel die Fotografie oder das Penicillin. Oder auch welthistorische Ereignisse wie die Entdeckung Amerikas. Der Zufall sei der heimliche Fortschrittsmotor, sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene als auch im privaten Leben.
„Trotzdem“, sage ich, „wenn man alles dem Zufall überlässt, dann kann man gar nichts mehr
planen, die Zukunft wird unkalkulierbar.“

„Ja, wo denken Sie hin?“ ruft Lorenzo. „Wer plant denn heute noch etwas? Bevor der erste Schritt getan ist, wird schon nach Plan B gerufen! Und wessen Zukunft ist denn kalkulierbar, wenn er nicht gerade Bill Gates’ Sohn ist? Ich sage immer, wenn mir etwas Unerwartetes zustößt: Nimm es, als käme es von deinem großen Bruder, der es gut mit dir meint. Dein Bruder kann dir auch mal eine kleben, na klar, und manchmal lässt er dich im Stich, aber er weiß immer, dass er dein Bruder ist, deshalb schützt er dich, er hilft dir in Notlagen, ja mitunter ist er geradezu genial. Das Schicksal dagegen ist kalt und fern, das Schicksal lässt sich nicht in die Karten schauen, ist steif wie ein Heiligenbild – pah!“ Lorenzo verzieht verächtlich den Mund. „Das Schicksal kann mir gestohlen bleiben.“

Ich überlege, was ich dazu sagen könnte. Da ruft Lorenzo plötzlich: „Was ist das denn?“ und bückt sich nach einem glitzernden Gegenstand, der drei Meter entfernt im Rinnstein liegt. Es ist ein silberner Ring, der wie eine Schlange gewunden ist und sich flexibel der Fingerstärke anpassen lässt. Er hat sogar einen roten Stein. Lorenzo strahlt. „Nicht schlecht, wie? Den schenke ich meiner Freundin!“ Er steckt ihn sich an den Finger und reckt mir die Hand entgegen.
Als der Bus kommt, bleibt Lorenzo unter dem Häuschen stehen. „Fahren Sie nicht mit?“ frage ich. „Nein, ist mir zu voll. Da sind zu viele Zufälle auf einem Fleck. Ich geh lieber zu Fuß und lass mich Stück um Stück überraschen.“

Der Text erschien als Glossenbeitrag in der Berliner Zeitung.

Volker Kaminski, geb. 1958 in Karlsruhe, Studium Germanistik/Philosophie, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er veröffentlicht Kurzgeschichten, Glossen (Berliner Zeitung), zahlreiche Romane, zuletzt: „Herzhand“ (PalmArtPress 2021), „Der Gestrandete“ (Lindemanns Bibliothek 2019), „Auf Probe“ (Wortreich Verlag 2018), „Rot wie Schnee“ (Wortreich Verlag 2016).

Kaminski rezensiert Romane aus dem arabisch-persischen Kulturraum für die Deutsche Welle. Seit 2014 ist er Lehrbeauftragter an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und unterrichtet dort Creative Writing in einer Romanwerkstatt. Außerdem bildet er Autor*innen aus über das Institut für kreatives Schreiben (IKS). Stipendien: Alfred Döblin-Stipendium. Stipendium Kunststiftung Baden-Württemberg, Stipendium Künstlerhaus Edenkoben.
Volker Kaminski

Im Herbst 2023 erscheint sein neuer Roman „RUA 17“ im Verlag PalmArtPress.

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Volker Kaminski, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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