Lagune polarwärts

Gastbeiträge

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Der Himmel ist möwengrau. Wölkchen reiht sich an Wölkchen. In den Augen des Seehundes spiegelt sich dieses Himmelsspiel für Sekunden. Dann taucht er wieder in den eisigen Spiegel. Schon lange hat der Gletschersee keine blanke Sonne mehr gesehen – war vielleicht auch gut so. Wie leicht leckte das gelbe Ding da oben die türkisblauen Kissen weg.

Also schiebt und drängelt, zieht und hebt sich, was aus Eis ist und in Wasser schwimmt. Und der Dreck der Ufer zieht sich ins Reine und schwärzt und marmoriert es. Und darüber schwirren Küstenseeschwalben und scheißen auf alles und tauchen kamikazeartig ins klare Nass, schnappen sich die glatten Sandaale, die knapp unter der Wasseroberfläche schweben. Und die schlanken Fischlein, jetzt entlebt, biegen sich im heftigen Wind und tanzen im Vogelschnabel wie in einer Ballettaufführung. Noch im Tode eine überzeugende Aufführung! Und die Mantelmöwen! Graubraune, fast riesige Himmelskörper, die schier aus dem Unendlichen im Graublau des Himmels entmaterialisieren. Sie reißen Fische und kleinere Möwen, Seeschwalben und manchmal auch nur eine in den See entlassene Plastiktüte aus Menschenhand. Dann steigen sie auf wie Raketen und krächzen: „Einer zum Beamen“ und weg sind sie.

Im See die Riesenbrocken stehen still wie auf Befehl. Zwitschern, Krächzen, ein Platsch, wenn eine Schwalbe wieder nach Fischen taucht. Grau und Hellblau, durchsichtig und dennoch formatig, schwimmende Edelsteine, in allen Farben glitzernd, wenn die Sonne für Sekundenbruchteile durch den Einheitsbrei der Himmelswatte lugt. Dem Gletscher schwimmt alles davon. Gut, er war vorbereitet. Ja, er wartete geduldig seit Jahrtausenden. Er hatte sich auf seine Entkleidung bestens vorbereitet. Wenn es denn sein musste, dann ja. Alle Jahre ein paar Zentimeter entblößen. Nur nichts Voreiliges. Nichts preisgeben. An sich halten. Aber die Zeit leckte und leckt. Unter den eisernen Brücken das Pärchen, meerwärts unterwegs, stromschnellig, windschlüpfrig, Eiderenterich und Eiderente. Er grünhalsig und weißschwarz wie die Gletscherbrocken des Sees, sie unscheinbar bräunlich, mit angedeutetem Gelb, die Augen seeklar, die ölignassen Federn kurz spreizend, dann im Lebensraum Nass schnäbelnd.

Den Seehund eiskalt passierend, der plötzlich aus dem Wasser schießt, ein fröstelnder Geysir. Den Gletscher schüttelt ein heiseres Lachen. Die Mantelmöwe hat sich eine junge Küstenseeschwalbe geholt, die fernab der Familie ihre Federn badete. Ihr Todesschrei dauert nur vier Sekunden. Dann ist der Himmel wieder möwengrau. Wölkchen reiht sich an Wölkchen, mit einem ganz zarten Hinweis auf Rot.

Aus:
Peter Ettl: Im Reich der gefrorenen Zeit, erschienen im September 2023, Silver Horse Edition.

Peter Ettl, *1954 in Regensburg, lebt in Marklkofen (Niederbayern). Über 50 Buchveröffentlichungen, zuletzt „Schneescherben“, Lyrik, 2023, „Im Reich der gefrorenen Zeit“ (Literarische und fotografische Begegnungen mit Island), 2023. Zahlreiche Beiträge in Anthologien, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk. U.a. Kulturförderpreis seiner Heimatstadt Regensburg und Kulturförderpreis Ostbayern.
Peter Ettl

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Peter Ettl.

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