Keloid

Gastbeiträge

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Ein paar Monate würde ich ihn noch ertragen müssen. Meine erste Klinikstelle. Und mit fünfundzwanzig die Jüngste und die einzige Frau im Team. Ich schickte jede Woche Bewerbungen raus. Vor Kurzem hatte ich ohne Einladung bei einem Chefarzt vorgesprochen. Der hatte dann vor meinen Augen auf einen mannshohen Schrank gewiesen: alles unbearbeitete Anfragen.

Meuwel trat an den Tisch. Mir gegenüber. Die Borste auf seiner Wange überragte wie ein Stachel den Saum seines Mundschutzes. Timo platzierte sich neben mich. Schwester Silke stellte das Licht ein. Meuwel tastete mit den Fingerkuppen die Mittellinie ab. „Patient ist schlecht entspannt“, moserte er in Richtung Anästhesie.
Oberarzt auch, dachte ich. Wieder ging es nicht weiter.
Dieses Keloid an der Schulter … ist mir dieser Mann schon mal begegnet … kennen wir uns … andererseits … gibt viele solche Narben. Auch in der Unfall-Praxis, wo ich vorher gearbeitet hab, hab ich sie gesehen.
„Wir fangen an“, hörte ich Meuwel sagen.
Marion reichte ihm das Skalpell und Timo eine Klemme mit Tupfer. Meuwel setzte den ersten Schnitt. Präzise und zügig. In die Mittellinie zwischen Nabel und Brustbein. Die hübsche Haarlinie würde schon bald wieder nachwachsen und unangenehm jucken. Timo drückte die Gaze in das hochquellende Blut. Meuwel verlängerte den Schnitt nach oben und unten. Setzte die ersten Wundhaken ein. Die ich dann halten durfte. Einen Bauch öffnen und wieder verschließen konnte er wie im Schlaf. Letztens hatte ich ausgerechnet, dass er bisher auf über zehntausend gekommen sein dürfte. Ich dagegen hatte erst bei rund einhundertzwanzig assistiert. Es zischte und qualmte. Kleinere Gefäße des Unterhautfettgewebes wurden zwecks Blutstillung versengt. Der Gestank von verbranntem Fleisch.
„Patient fällt mit dem Druck ab.“ Pauls Kopf erhob sich hinter der Abtrennung.
„Wir sind gleich drin“, sagte Meuwel. „Blut ist gekreuzt?“
„Erste Konserve ready to go.“
„Wart noch, wart noch, ich schau mir das erst an.“ Meuwel spaltete mit Pinzette und Schere das Bauchfell. Schob vorsichtig die Hand hinein. Tastete in alle Richtungen. Als er sie wieder herauszog, war nur Blut am Handschuh.
Es wurden größere Haken eingesetzt. Meuwel untersuchte die Leber. Der Magen war schön gebläht.
„Find erst mal keine Läsionen“, sagte er.
„Deutliche Fettleber“, sagte Timo.
„Die Russen lieben den Wodka.“ Meuwel zeigte Krähenfüße über dem Mundschutz.
„An der Schulter – das könnt‘ ne Schusswunde sein“, spekulierte Timo. „War der im Krieg oder nur in Detroit?“ Er kicherte.
Diese Narbe … auf einmal bin ich mir sicher: ich hab meine Hände im Bauch von Jamies Vater, Leon Semironsky. Nur ein einziges Mal sind wir uns begegnet. Und da hat er mir, der angehenden Medizinerin, diese Narbe aus dem Krieg gezeigt. Mir wird schlecht. Jetzt abtreten … bricht mir das Genick … der Alte lässt mich nächste Woche wieder keine Appendix operieren …
„Ich geh jetzt Richtung Milzloge“, sagte Meuwel. „Da kommt das Blut her.“ Er schaute zum Röntgenschirm an der Wand. Ich blinzelte. Versuchte, den Namen am unteren Rand des Bildes zu entziffern. Lange Buchstabenreihe, dann kurz. „Siebte und achte Rippe links kaputt“, sagte er. „Da finden wir was. Helders, was macht der Druck?“
„Neunzig zu sechzig.“
Meuwel ließ sich ein feuchtes Bauchtuch reichen und breitete es über die Leber. Dann nahm er meine linke Hohlhand und drückte sie dagegen. „Hochhalten“, sagte er.
„Dr. Cravenich, sind Sie okay?“, fragte Marion.
„Ich kenne den Mann“, rutschte es mir raus. Und, als sei es eine Entschuldigung für den Zustand seiner Organe: „Er war in Dachau.“
Meuwel grimassierte unter dem Vliesstoff. Ich sah, wie die Wangenborste sich aufstellte. „Red kein Stuss, Cravenich. Hier spielt die Musik.“ Er korrigierte meine Hand auf der Leber. Dann trat er einen Schritt zurück und dehnte seine Schultern. „Hatte keine Nummer aufm Arm.“

Aus:
Kristin Rubra: Keloid. STROUX edition, 2024.

Kristin Rubra, geboren und aufgewachsen in den Sechzigerjahren am Niederrhein. Nach der Schule Beginn eines Medizinstudiums in Michigan/USA, dort Creative Writing und erste Veröffentlichungen in amerikanischem Englisch. Abschluss des Medizinstudiums in Düsseldorf. Seit den Neunzigerjahren Ärztin im klinischen Bereich.
2019 erschien die Geschichtensammlung ,Als ich deutsch wurde‘ als Band 35 der Reihe Topicana in der Edition Saarländisches Künstlerhaus. ,KELOID – vom überleben und lieben‘ ist ihr Debütroman.
Kristin Rubra: Keloid

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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