Wurzelstock

Aus dem Alltag

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Am Birnbaum, der vorm Fenster steht, hockt eine Amsel, singt ihr Lied. Marie schaut auf, lächelt. Achtzehn Jahre, denkt sie. Achtzehn Jahre, dass dies ihr Zimmer war, nie hat sie anderswo gelebt. Und nun: das Studium, der Umzug in die nahe Stadt. Marie atmet langsam, atmet tief, greift nach dem Geodreieck, das vor ihr liegt, am rechten Schreibtischrand. Es stimmt ja: voll Vorfreude ist sie. Und doch ist da die Ungewissheit, sind da tausend Fragen. Welchen Beruf werde ich wählen? Welches Leben führen? Kommst du, Marie? ruft die Mutter, reißt sie aus ihren Gedanken. Ja, Mama, sagt sie, sagt es leise, schmunzelt. Im Haus hängt der Duft von gebrühtem Kaffee. Marie sieht auf das Geodreieck, öffnet eine Schreibtischlade, legt es hinein. Einen Augenblick, dass sie zögert, ohne zu wissen, weshalb. Sie schließt die Lade, dreht den Kopf, schaut zum Fenster. Sieht den Birnbaum. Den Himmel. Die Amsel ist fort. Filterkaffee, denkt sie, als sie am Tisch sitzt, der Vater ihre Tasse füllt. Sie lächelt still, sagt nichts. Was hast du? fragt der Vater, fragt es zärtlich. Nichts, Papa, antwortet Marie. Es ist bloß: ich werde euren Kaffee vermissen. Ach, du weißt ja, wo du ihn finden kannst, sagt die Mutter, zwinkert ihr zu, setzt sich, sieht sie an aus rabendunklen Augen.

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