Im gleichen Zuge, in dem man im deutschen Staatstheater die vierte Wand eingerissen und die Konvention des Realismus für überholt erklärt hatte, nach der die Schauspieler ganz in ihrer Rolle aufgehen und die Zuschauer nicht wahrnehmen, waren in den deutschen Neubauten die Fenster zu bodentiefen Glasfronten mutiert. Nicht einmal ein Heizkörper stand dem spätabendlichen Voyeur im Weg, solche Gebäude hatten natürlich Fußbodenheizung. Jedes dieser mit Parkett ausgelegten Menschenaquarien befand sich im IKEA-Nicht-IKEA-Gleichgewicht; es war nur jedesmal ein wenig anders austariert. Das nannten sie wohl ihren eigenen Stil. Keinem heutigen Städter schien, da waren sie alle ganz Profi, das Beobachtetwerden etwas auszumachen. Vielleicht sogar im Gegenteil. Aber exhibitionistisch waren sie auch nicht, sondern einfach nur postintim. Sie zeigten aller Welt, dass es nichts zu zeigen gab. Selbst ihr Sex, einmal hatte er gemeint Glück zu haben, war possierlich wie der von Zootieren.
Im Naturalismus war Naturalismus noch ein anderes Wort für hässlich und abartig gewesen. Nicht viel mehr als hundert Jahre war das her. Heute war der Mensch übers Theater hinaus, dachte der Regieassistent. Jeder Käufer einer Eigentumswohnung in Bruchsal schlägt einen Absolventen von Ernst Busch. 30 war er nun schon und hoffte so sehr, sie würden ihm im dritten Jahr an der Landesbühne endlich eine eigene Regiearbeit anvertrauen. Eine szenische Lesung wenigstens, mit einem Schauspieler oder zur Not keinem. Vielleicht war daraus ja eine ganz neue ästhetische Position zu gewinnen. „Keiner zeigt Alles.“ Arbeitstitel. Befriedigt und müde schlug er den Weg ein zu seiner Bleibe.
Moritz Heger lebt in Stuttgart
seit 2017 1. Vorsitzender des Stuttgarter Schriftstellerhauses e. V.
letzte Romane:
„Aus der Mitte des Sees“, 2021
„Die Zeit der Zikaden“, 2024
beide bei Diogenes
Moritz Heger
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Moritz Heger, die Bildrechte bei Doris Lipp.