Zeitreise im Bräunerhof

Aus dem Alltag

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‚Eine Melange, der Herr.‘ Spricht es und stellt noch ein Körbchen mit Kipferl auf den winzigen Tisch, dem Kaffee stand schließlich angemessenes Geleit zu. Barbara Coudenhove-Kalergi sitzt wie gewöhnlich am Ecktisch bei der Fensterfront und blättert in einer großformatigen Tageszeitung, während Thomas Bernhard ungerührt an mir vorbeischaut. Er tut es freilich nur auf einem Foto, das keine zehn Schritte von seinem einstigen Stammplatz entfernt an der Wand hängt. Zwei französische Touristen unterhalten sich angeregt, aber in angemessener Lautstärke unter seinem Bild, ohne – wie zu vermuten steht – je von ihm gehört zu haben. Das Fauchen und Zischen der Kaffeemaschine und das beständige Scheppern aneinanderklirrender Tassen legt sich über den Raum und vermischt sich mit dem Stimmengewirr der Besucher, das stetig anschwillt, je weiter der Tag voranschreitet.

Der Bräunerhof ist mir nicht fremd. Einst war er mir die zweite Heimat meiner Studienjahre gewesen. Ich kannte Wien noch nicht, zu seiner Seele, dem Kaffeehaus, aber fand ich augenblicklich und instinktiv. Robert Menasse las neben mir die ‚Zeit‘, während ich mich in Rechnungslegungsvorschriften vertieft und in Verfassungsrecht vergraben hatte. Alfred Hrdlicka hat sich mit steinerner Miene klaren Getränken genähert, derweil ich mit Adam Smith, John Maynard Keynes und der Theorie der komparativen Kosten von David Ricardo rang und missmutig das erste Glas Rotwein orderte. Und Hermann Nitsch hielt ebenso lust- wie würdevoll Hof in diesen unglaublich gemütlichen, unerhört zerschlissenen Sitzecken, während ich in die Geheimnisse der Marktzinsmethode nach Schierenbeck vertieft war. Es waren zwei ausgesprochen dicke Bände.

Die Ober adelten mich durch ein Maß an Vertrautheit, das nur Stammgästen gebührt und sprachen mich mit ‚Professor‘ an. Der alte Herr Ferenc zuweilen auch mit ‚Sportsfreund‘. Die Luft war gesättigt vom Geruch gerösteten Kaffees, dem Rauch unzähliger Zigaretten und einem nicht enden wollenden Strom unentwirrbarer Gesprächsfetzen.
Ich habe es geliebt.

Die Studententage sind lange vorbei und mit ihnen verschwunden die mir vertrauten Ober. Ein-, zweimal im Jahr noch komme ich in den Bräunerhof und freue mich jedes Mal, wenn ich Barbara Coudenhove-Kalergi in der Ecke sitzen sehe, vertieft in eine großformatige Tageszeitung. Mein Besuch ist eine Art stiller Liturgie, ein Versuch, sich den vergangenen Tagen anzunähern. Ein Versuch, der stets gepaart ist mit einem Hauch Wehmut.
Denn niemand hier kennt mich. Niemand nennt mich Professor oder Sportsfreund. Und dass meine erste Order hier immer eine Melange ist, weiß auch keiner mehr.

Ich setze mich, blicke kurz zu Thomas Bernhard hoch und schlage den ‚Radetzkymarsch‘ von Joseph Roth auf. Es ist ein großes Buch voll hypnotischer Kraft, das mich bald die Zeit vergessen lässt. Aber Zeit ist an diesem Ort, wo sich zwei Uhren befinden, die beide funktionieren, aber nicht dasselbe anzeigen, ohnehin ein relativer Begriff. Meine Tischnachbarn wechseln mehrmals im Lauf der Stunden. Einmal bücke ich mich, um die zu Boden gefallene Verschlusskappe der Kamera einer japanischen Touristin aufzuheben. Höre, wie einer der Ober einem Stammgast von seiner bevorstehenden Knieoperation erzählt.
Robert Menasse oder Hermann Nitsch schauen heute nicht vorbei.

Am Abend besuchen wir ein Konzert von Ernst Molden und dem Nino aus Wien in der Sargfabrik. Ganz still ist es, als sie André Hellers ‚Und dann bin i ka Liliputaner mehr‘ oder Georg Danzers ebenso grandioses wie trauriges ‚Der Tschik‘ spielen. In der Reihe vor uns sitzt Rudolf Scholten, der auch schwungvolleren Liedern trotzt und seine würdevolle Haltung nicht verliert.

Am nächsten Tag bin ich knapp nach halb neun wieder im Bräunerhof. Außer mir sind erst drei Gäste hier und ja, eine davon ist Barbara Coudenhove-Kalergi. ‚Eine Melange, der Herr?‘, fragt mich der Ober und mir ist, als wäre ich nach Hause gekommen. ‚Ja, gerne‘, sage ich und blicke hoch zu Thomas Bernhard, der noch immer ungerührt an mir vorbeischaut.
Dann greife ich in meine Tasche, hole den ‚Radetzkymarsch‘ hervor und beginne zu lesen.

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