Abdel Wahab Yousif

Gastbeiträge

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Abdel Wahab Yousif stammt aus einer armen Familie aus dem Süden der sudanesischen Region Darfur. Seit seiner Kindheit kennt er Armut und Krieg, geht aber zur Schule, lernt bis zum Abitur und studiert danach Wirtschaftswissenschaften in der Hauptstadt Khartum. Seinen Lebensunterhalt muss er sich allein verdienen, darum bietet er an der zentralen Bushaltestelle Sharawni mit Tisch, Stuhl und Spiegel seine Friseurdienste an. Einmal lässt ein Student sich die Haare schneiden und Abdel Wahab bittet als Bezahlung um das Buch, das der in den Händen hält. Abdel Wahab schreibt Gedichte und Kurzgeschichten, die er auf Facebook und seinem Blog unter dem Namen Latinos veröffentlicht, und hat tausende, vor allem junge Leserinnen und Leser.
Er beendet sein Studium mit dem Bachelor als einer der Besten des Jahres. 2019 führen Demonstrationen zum Sturz des gewalttätigen Herrschers al-Baschir. Danach gibt es große Hoffnungen auf eine Demokratisierung und Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Landes, die sich nicht erfüllen. Abdel Wahab Yousif findet keine Arbeit, die Perspektivlosigkeit ist ihm unerträglich. Er denkt in seinen Gedichten immer wieder über eine Emigration und die Risiken der gefährlichen Reise nach und beschließt, sich auf den Weg zu machen – über Libyen nach Europa zu gelangen. Er findet sich in Libyen in der gefährlichen Gegend Bani Walid wieder, wo Migranten gekidnappt, als Geiseln genommen, als Sklaven zur Arbeit gezwungen oder verkauft werden. Aber er schreibt weiter Gedichte und postet sie auf Facebook.
In Tripolis sucht er nach einer Möglichkeit, über das Mittelmeer zu gelangen: er hat sich entschieden, wenn auch die Angst und das Bewusstsein der Lebensgefahr immer in seinen Gedanken sind. Am 15. August 2020 besteigt er mit vielen anderen ein weißes Schlauchboot.

Um 16:48 Uhr geht ein Notruf bei der NGO Alarm Phone ein: Ein weißes Schlauchboot mit 114 Personen ist in Seenot, der Motor funktioniere nicht mehr. In den nun folgenden Stunden alarmiert Alarm Phone immer wieder die Küstenwachen von Italien, Malta, Libyen und Tunesien. Die Anrufe werden von allen Stellen ignoriert oder eine Rettung wird abgelehnt. Um 22:25 Uhr hören die Mitarbeiter von Alarm Phone durch das Telefon die Panik der in Seenot Geratenen, der Mann am Telefon schreit, sie würden sterben. Dies ist die letzte Nachricht von diesem Boot. Insgesamt sechs Stunden hat Alarm Phone vergeblich nach Hilfe gesucht. Angehörige der libyschen Küstenwache hatten auf den Motor geschossen, der daraufhin explodierte. Manche kamen im Feuer um, manche ertranken, Abdel Wahab Yousif ist einer der 45 Toten.

Er hat viele geliebte Menschen zurückgelassen und viele, die bis heute seine Poesie verehren. Sie können einen Teil seiner Gedichte und Geschichten noch heute auf seinem Blog lesen, der ebenso wie seine Facebook-Seite noch online ist. Durch die Bekanntheit seiner Poesie im Sudan verbreitete sich die Nachricht von seinem Tod in den Medien verschiedener europäischer Länder und so stießen auch bildende Künstler und Musiker auf seine Gedichte. Sie ließen sich davon zu Songs und Bildern anregen. Es gibt inzwischen Übersetzungen in mindestens sechs Sprachen, die in Literaturzeitschriften und im Internet nachzulesen sind. Seine Freundinnen und Freunde im Sudan planen, ein Buch mit seinem literarischen Werk zu veröffentlichen.

Abdel Wahab Yousif:

Andere Zeit

Ich wünschte, ich wäre geboren
in anderer Zeit
in einem anderen Zeitalter
wie man so sagt.
Ich wünschte, ich wäre geboren
im Vor-U-Bahn
Vor-Dampfmaschinen
Vor-Gott-Zeitalter
als die Geheimnisse des Prophetentums
vergraben waren
und nicht ausgegraben wurden
sie sollten für immer bleiben.
Ich wünschte, ich wäre geboren
als ein Kind etwas ganz Einfaches war
wie irgendein zufälliges Ding
wie irgendein zufälliger Hund
oder eine Katze
oder ein Hahn
irgendeine Sache, notiert auf der Besitzliste der Mutter.
Ich wünschte, ich wäre geboren
in einem anderen Zeitalter
als schwaches Fleisch einfach Fleisch war
und der Körper, unheilig, genauso einfach war.
Ich wünschte, ich wäre geboren
in einer Höhle
inmitten des dichtesten Dschungels
ein Dschungel, in dem ich
den Insekten, die mein Blut saugen
die beste Brut bereiten könnte.
Von Schlamm zu Schlamm.
Ich wünschte, ich könnte weggehen
vom Leben, Schmerz, Licht
hinein in ein schwarzes Loch
in die Nacht
und verschwinden.
Ich wünschte, ich könnte schreien
fluchen
dem ganzen verdammten Mist ins Gesicht spucken
denn alles, was ich mir wünsche
ist mehr
viel mehr Wildheit
mehr Entschlossenheit gegen den Griff der Verwüstung
der unseren letzten Atem auspresst.

Nach der englischen Übersetzung von Najlaa Eltom für PEN Schweden ins Deutsche übertragen von Anja Tuckermann.

Aus:
Todesursache: Flucht – Eine unvollständige Liste. Hirnkost Verlag, 2023.

Anja Tuckermann, lebt in Berlin, wo sie auch aufgewachsen ist. Sie ist Autorin von Romanen, Theaterstücken und Kinderbüchern. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Literaturpreis (Denk nicht, wir bleiben hier – Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner) und dem Friedrich-Gerstäcker-Preis (Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war) und in 15 Sprachen übersetzt, zuletzt Muscha auf kasachisch. Zuletzt erschien Palmström, Korf und Kunkel im Hirnkost Verlag (2021). Sie ist Mitherausgeberin von Todesursache: Flucht – Eine unvollständige Liste.
Anja Tuckermann (Literaturport)

Abdel Wahab Yousif. Sudanesischer Poet. Er starb am 15. August 2020.
Abdel Wahab Yousif
Mediapart

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Anja Tuckermann, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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