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Aus dem Alltag

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Kann man den Ort, an dem man aufgewachsen ist, an seiner Aura erkennen? Ist es möglich, dass sich Fragmente eines früheren Ichs in diesen Räumen wiederfinden?
Und wieviel von unserem Wesen bleibt zurück, wenn wir diesen Ort endgültig verlassen?

Schon immer ist es die zehnte Stufe gewesen, die geknarrt hat. Als betrachte sie ihre Aufgabe als schamlose Zumutung und könnte diese folglich nur unter lautstarkem Protest erledigen. Am oberen Treppenende ein Vorraum, seit den frühen Achtzigerjahren Heimstatt einer immer noch famosen Modelllandschaft mit Kirche, Berg und Frachtbahnhof, erschaffen durch Kreativität, Geduld und Geschick meines handwerklich ungleich begabteren Bruders. Märklin-Züge, unbewegt seit drei Dekaden, warten auf ein Signal, das nicht mehr kommen, Autos auf einen Schranken, der für immer geschlossen bleiben wird.

Hinter der Tür die drei Räume. Bewohnt von meiner Großmutter, bis sie starb. Von meinem Bruder, bis er auszog. Von mir, der ich später nach Wien zog, immer seltener nach Hause kam, bis ich schließlich mein Heim an anderer Stelle fand.
Die drei Zimmer aber fanden niemanden mehr, der sie in Besitz nahm.

Im ersten Raum noch immer das alte Waschbecken meiner Oma. Ich öffne den Wasserhahn, er funktioniert. Getraut sich nicht, auch nur einen Tropfen durch seinen altersschwachen Dichtungsring zu verlieren, als ich ihn wieder schließe. Als fürchte er, nach Jahrzehnten schließlich ersetzt zu werden, obschon er doch wissen müsste, dass Veränderung im elterlichen Haushalt kein Faktor ist, der hohen Stellenwert genießt.

Das Fenster, aus dem meine Großmutter in die Welt sah. Eine Welt, die hinter dem nahen Wald und der sanften Rechtskurve vor der Nachbarortschaft ihr visuelles Ende fand. Sie war ihr nicht zu klein, meiner Oma. Dahinter, da lauerten ohnehin nur Ärzte, Sorgen und anderer Unbill, dem man besser aus dem Wege ging. Nein, es kümmerte sie nicht, dass ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Nur ein paar Schritte mehr tun können, in den Garten vielleicht oder die Siedlung hinauf, das wäre fein gewesen. Es hätte ihr gereicht.

Ich gehe weiter, ins zweite Zimmer. Mitten im Raum mein Schreibtisch. Unversehrt, als hätte ich ihn eben erst verlassen, und die Schubladen randvoll mit manifesten Versatzstücken meiner Studienjahre. An der Stirnseite der Kasten, der, stolz den wechselnden Moden der Zeit trotzend, den Raum mit seinem fröhlichen Sechzigerjahre-Charme flutet. Schließlich das Schlafzimmer. In der einen Ecke meine Fisher-Stereoanlage, erstanden anno 1989, die immer noch tadellos funktioniert, selbst Plattenspieler und Kassettendeck. Nur die Boxen lassen erste Anzeichen von Schwäche erkennen und versagen den tieferen Bässen mitleidlos ihren Dienst. Ich trete zum CD-Regal und angle mir Bob Dylan. Und während ich gedankenverloren aus dem Fenster sehe, hinab in den Garten, hinüber zur in den Neunzigern entstandenen schmucken Reihenhaussiedlung, grölt Bob mit seiner unnachahmlichen Stimme: ‚How does it feel to be on your own, with no direction home, a complete unknown, just like a rolling stone?‘

Wieviel von unserem Wesen bleibt zurück, wenn wir den Ort, an dem wir aufgewachsen sind, endgültig verlassen? Was haben wir noch gemein mit jenem, der hier einst gewohnt hat? Es ist meine Mutter, die mich unvermittelt aus meinen Gedanken reißt und fragt, ob es Zeit für einen Kaffee wäre. Und im Hintergrund höre ich bereits meinen Vater, wie er beherzt und nicht wenig geräuschvoll nach den Tassen greift.

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