Das Meer hat grünen Tang angeschwemmt, in dem blaurosa Quallen schimmern. Es muss gestürmt haben letzte Nacht, und ich überlege, ob ich im Schlaf den Wind in den Bäumen gehört habe. Der Hund beschnuppert die Quallen. Der Algenteppich ist glitschig unter den Sohlen meiner Gummistiefel und an manchen Stellen so dick, dass ich bis zu den Knöcheln einsinke – als habe der Sturm den Meeresgrund entlaubt.
Früher meinten die Leute hier, unter dem Wasser liege eine Insel mit Hainen und Wiesen, auf der man die Vergangenheit vergesse. Manannán mac Lir, der Sohn des Meeres, herrschte über sie. Der Hund hat das Interesse an den Quallen verloren. Ein Kormoran fliegt Richtung Clogherhead. Corvus marinus, Meerrabe. Das Gefieder der Vögel nimmt Wasser auf, damit sie besser tauchen können. Zum Trocknen breiten sie ihre Flügel aus wie Wappentiere. Clogherhead kommt von Ceann Chlochair und bedeutet felsiges Kap.
Ciabhán, den alle Frauen begehrten, alle Männer beneideten, fand ein Boot am Strand mit einem kupfernen Bug.
«Willst du uns verlassen?», fragten die Leute.
Ciabhán nickte.
Mächtige Wogen erhoben sich, jede so hoch wie ein Berg, und der Lachs sprang in ihnen. Da sah Ciabhán einen Reiter auf einem Ross mit goldenem Zaumzeug. Neun Wellen lang blieb er unter Wasser, in der zehnten tauchte er auf, ohne einen Tropfen an sich.
«Was gibst du dem, der dich rettet?», fragte der Reiter.
«Was kann ich ihm geben?», fragte Ciabhán.
«Du kannst ihm dienen.»
Ciabhán nickte, und der Reiter reichte ihm die Hand.
Der Reiter brachte Ciabhán auf die Insel unter dem Wasser. Dort bereitete man ein Fest. Harfenspieler und Artisten kamen, führten ihre Kunststücke vor, doch Ciabhán übertraf sie alle. Clíodhna mit dem seidenen Haar, die noch keinen geliebt hatte, sah ihn und schenkte ihm ihr Herz.
Ich rufe den Hund, der in den Dünen nach Hasen sucht, und wir gehen das Ufer entlang zurück. Clíodhna muss gewusst haben, dass sie mit Ciabhán nicht auf der Insel bleiben konnte. Sie flohen im Boot mit dem Kupferbug. Als sie in einer Bucht anlegten, ging Ciabhán in den Wald, um einen Hirsch zu erlegen. Da kam Manannán mac Lir mit vierzig Schiffen, um Clíodhna zurückzuholen. Ichnu der Flötenspieler spielte sie in den Schlaf, und das Meer erfasste sie. Seither trägt jede zehnte Welle in dieser Bucht Clíodhnas Namen.
Die Welt unter Wasser muss von einem grünlichen Licht erfüllt sein. Früher fanden Fischer manchmal Apfelblüten in ihren Netzen oder einen goldenen Becher. Womit füllt sich der Raum in unserem Gedächtnis, wenn wir die Vergangenheit vergessen? Die Wellen spülen weiße Schaumränder an den Strand. Weiter draußen scheint das Meer glatter, bis es als scharfe Kante den Himmel berührt. Vielleicht ist es leichter, an etwas Erfundenes zu glauben, als an die Leere.
Aus:
Gabrielle Alioth: Seapoint – Strand, Caracol-Verlag, 2022
Gabrielle Alioth wurde 1955 in Basel geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Basel und Salzburg und war als Konjunkturforscherin tätig. Seit 1984 lebt sie als Schriftstellerin in Irland. Neben Romanen publiziert sie Kinder-, Reise- und Sachbücher sowie Lyrik auf Englisch, arbeitet journalistisch und gibt Schreibkurse.
Zuletzt erschienen: „Seapoint – Strand“, Caracol Verlag, 2022
Gabrielle Alioth
Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Gabrielle Alioth.