Sie wollte sich nicht ängstigen. Und tat es doch. Es kam die Furcht wie ein böser Geist über sie, war plötzlich da, mächtig und unkontrollierbar. Meist ohne klaren Grund. Und ohne Ziel.
Das machte ihr noch mehr Angst.
Anfangs griff sie, hektisch nach Atem ringend, mit fahrigen Fingern zur Zigarette. Später griff sie zur Flasche, das Rauchen ließ sie freilich nicht. Der Wodka machte die Welt freundlicher, dämpfte deren drängende Ungeduld, nahm ihr ihre kalte Schärfe. Nach dem ersten Glas hörten ihre Hände auf zu zittern, nach dem zweiten konnte sie freier atmen. Nach dem dritten lächelte sie über ihre Schwäche, sie war ja nur vorübergehend. Ja, die Angst, verging sie nicht tatsächlich nach ein paar Gläsern?
Die Angst. Die Angst wovor?
Das Glas noch in der rechten Hand sank sie zurück aufs Kanapee, die Spannung wich jetzt sanft aus ihrem Körper. Ihr Atem beruhigte sich allmählich, wurde tiefer und regelmäßiger, auch der Puls raste nun nicht mehr. ‚Ein Glas noch‘, sagte sie zu sich, flüsterte es beschwörend ins Zimmer hinein. Beugte sich nach vor, fasste die Flasche und hörte nicht, wollte nicht hören, dass Nick Cave ausgerechnet in diesem Augenblick ‚Red Right Hand‘ sang.
Sie fuhr hoch. Musste eingeschlafen sein. Es war dunkel im Zimmer. Von draußen, durch die halb geöffnete Verandatür, strömte in milden Stößen warme Luft herein. Irgendwo quakte ein Frosch. Einmal, zweimal, dann war es still. Und mit einem Mal, wie ein dunkler Schatten, der aus noch finsterer Schwärze tritt, war sie wieder da, die Angst. Ergriff Besitz von ihr, als wäre sie etwas, das man gelangweilt zur Hand nimmt, bevor man es achtlos wieder ablegt. An einem anderen Ort.
Seit ihre Mutter tot war, lebte sie allein in diesem Häuschen. Wie ein heller Stern war die Mutter gewesen, als sie noch in voller Pracht im Leben stand. Aber ein Stern, der duldet freilich keinen seinesgleichen in der Nähe. Kann ihn nicht dulden, lässt bloß Satelliten zu, die kraft- und willenlos nach seinen Regeln ihre Kreise ziehen. Dann kam die Krankheit und der Stern begann zu schrumpfen. Verlor rasch mehr und mehr an Masse, erlosch schließlich an einem eisigen Novembermorgen, der eine kalte Sonne gebar und eine Dreiundsiebzigjährige aus dem irdischen Leben riss.
Vier Monate und dreizehn Tage danach griff sie das erste Mal nach der Flasche.
Sie hatte noch Kraft, wusste sie aber nicht recht zu nutzen. Sie wollte leben, maßlos leben, das Joch der Furcht endgültig hinter sich lassen. Und frohen Mutes langte sie nach dem Wodka, schraubte die Verschlusskappe ab und füllte ihr seit Stunden leeres Glas.
Ich kicke einen Stein beiseite, der mitten auf der Fahrbahn liegt. Eine Amsel singt eines ihrer vielen Lieder, während ein Dutzend Spatzen ausgelassen Fangen spielt in diesen prächtigen Weigelien gleich an der Ecke. In der Ferne kläfft ein Hund. Es ist ein wolkenloser Sonntagmorgen und der Tag, er schmeckt schon jetzt nach Sommer. In meiner Linken baumelt eine Tasche, gefüllt mit Altpapier und einer leeren Flasche Wein. Beim Glascontainer treffe ich, wie manches Mal zuvor, auf eine Frau und wie üblich wechseln wir ein paar magere Grußworte. Sie wirkt blass und hager, denke ich mir, bevor ich die Flasche einwerfe, mich auch des Altpapiers entledige und eine Sonntagszeitung aus dem nahen Ständer fische.
Dann drehe ich mich um und mache mich auf den Weg nach Hause, wo Doris schon mit Frühstück wartet und der ganze Raum nach frisch gebrühtem Kaffee duftet.