Sie hob den Kopf, sah aus dem Fenster. Es regnete. Welcher Gedanke, fragte sie sich, hatte sie aufhorchen lassen, hatte sich festgekrallt an den Rändern ihres Bewusstseins? Sie biss sich auf die Unterlippe, kniff die Augen zusammen, versuchte, sich zu erinnern, es gelang ihr nicht. Ein Sperling flog zum Kirschbaum, der im Nachbargarten stand, verschwand im Gewirr von Ästen und Laub. Lea schüttelte den Kopf, griff wieder zum Buch, in dem sie gelesen hatte. Sie wusste nicht, auch nach sechzig Seiten nicht, ob es ihr gefiel. Zehn Seiten noch, dachte sie, dann werde ich entscheiden. Also las sie, zehn, zwölf Zeilen wohl, bis sie wieder den Kopf hob, aufsah. Werd‘ mir gerecht, dachte sie, erstarrte. Das war es. Werd‘ mir gerecht. Sie wollte schlucken, merkte, dass ihr Mund trocken war, ihre Kehle kratzig. Ihr Herz schlug wie wild. Weshalb? fragte sie sich, verstand nicht. Was beunruhigte sie? Und wer war es, dem sie gerecht werden sollte? Sie schloss die Augen, zwang sich, langsam zu atmen, tief. Es funktionierte. Ihr Puls wurde ruhiger, ihr Denken klar. Und nun, da ihr Blick nach innen ging, sah sie, woher die Worte kamen, wer es war, der zu ihr sprach. Lea erschrak. Sie sah, es war kein Zweifel möglich, das Mädchen, das sie gewesen war, vor langer Zeit, vor einigen Jahrzehnten. Das Mädchen lächelte, neigte den Kopf. Schau, sagte es, deutete auf einen Punkt, der hinter Lea lag. Dieser Punkt, dachte Lea, liegt er in der Vergangenheit oder in der Zukunft? Sie nickte, wandte sich um. Werd‘ mir gerecht, hörte sie das Mädchen hinter sich sagen. Draußen, vor dem Fenster, Lea sah es nicht, löste sich der Sperling vom Kirschbaum, verschwand im Dickicht eines Holunderstrauchs.