Bist du glücklich?

Aus dem Alltag

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‚Kind, bist du glücklich?‘, fragte sie. Es brachte ihn aus der Fassung. Er hatte mit Banalerem gerechnet, ob es ihm ‚gut gehe‘ etwa oder ‚alles in Ordnung‘ sei im Beruf. Auf diese Fragen wäre er vorbereitet gewesen. Er schaute auf den Suppenlöffel, nach dem er gerade gegriffen hatte. Legte ihn zurück auf die Serviette, die Löffelschale genau auf die rosafarbene Rose. Wusste nicht, was er sagen sollte.
Sah seine Mutter an.

‚Ob ich? Ja, also weißt du‘, stammelte er, rang nach Worten wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hatte. War hilflos. Dachte sich: bin ich glücklich? Er spürte eine Unruhe in sich aufsteigen, die ihm unheimlich war und fremd. Sah seiner Mutter direkt in die Augen. Die tat etwas, das ungewöhnlich war für sie.
Sie wartete auf seine Antwort.

Er konnte nicht sagen, wann sie zuletzt miteinander gesprochen hatten. Nicht Belanglosigkeiten ausgetauscht, Triviales, das sich bald in Floskeln erschöpft hatte. Sondern richtig miteinander gesprochen. Sich über Dinge unterhalten, die sich nicht im familiären Drehbuch fanden, wo jedes Wort im Voraus festgeschrieben stand. Geht’s dir eh gut, Kind? Ja, Mama, alles in Ordnung. Gut so, man muss dankbar sein.
Alles, was von diesem Drehbuch abwich, unerwartet war und neu, glich einer Bedrohung. Einer potentiellen Störung der Ordnung, die man besser nicht zuließ. Magst du noch ein Stück Kuchen, Bub? Nein, danke. Ich habe genug.
Nimm dir doch noch eins. Du schaust blass aus, Kind.

Er sah zu seinem Vater, der rechts von ihm saß und lustlos in seiner Suppe stocherte. Der nichts von seinem Unvermögen, eine scheinbar einfache Frage zu beantworten, zu bemerken schien. Die nahe Kirchturmuhr stimmte ihr Mittagsläuten an. Im Radio begannen die Nachrichten. Niemand beachtete sie.

Was er hervorbrachte, waren Gemeinplätze. Phrasen, die leer waren, nichts enthüllten außer seiner Unfähigkeit, offene Worte zu finden. ‚Ja, doch. Ich bin zufrieden.‘, hörte er sich sagen. ‚Glücklich‘ brachte er nicht über die Lippen. Er hätte von seinen ständigen Magenproblemen erzählen können und dass ihm die Scheidung immer noch zusetzte. Auch jetzt noch, vier Jahre war es her. Davon, dass er das Gefühl hatte, festzustecken im Beruf, wo alles immer im Umbruch war und Kontinuität ein Unwort. Er tat es nicht. Konnte es nicht. Schaute seine Mutter an, die ihn zum ersten Mal gefragt hatte, ob er glücklich sei. Sah, wie sie lächeln wollte.
Es nicht konnte.

‚Warum sieht er mich so an, der Bub?‘, fragte sie sich. War das nicht normal für eine Mutter: wissen zu wollen, ob ihr Sohn glücklich war? Weiß Gott, er hatte keinen Grund, sich zu beklagen. Andere Zeiten hatten sie erlebt, damals. Ganz andere. Er mochte über fünfzig sein. Jung war das. Unerhört jung. Sie griff nach den leeren Tellern, trug sie zum Spülbecken. Der Nachrichtensprecher war beim Wetter angelangt. Es würde Regenschauer geben.

Der Befund lag neben dem Radio. Sie würde ihm nichts sagen. Nicht heute. Sie wusch sich die Hände. Holte das Kaffeegeschirr aus dem Küchenschrank, das Milchkännchen. Die Zuckerdose. Nahm die kleinen Löffel aus der Bestecklade. Stellte die Zuckerdose vor ihren Sohn.
‚Nein, Mama, ich brauche keinen Zucker‘, sagte er und schob sie Richtung Tischmitte.

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