Brieftauben in Berlin (1988)

Gastbeiträge

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Zum Glück hat uns noch keiner dabei beobachtet, ich könnte nicht einmal erklären, wie es angefangen hat. Wir stehen einander gegenüber, zu unseren Füßen die Kante einer Mauer. Jeder von uns schaut aus seinem vierten Stockwerk über diese Mauerkante hinweg. Wohin das Licht beim anderen fällt, weiß ich nicht – bei mir scheint es in die Küche, wenn es scheint. Von dem anderen weiß ich überhaupt sehr wenig, nur so viel, dass er mir manchmal mit seiner rechten Hand zuwinkt. Dass er mir gegenübersteht, ist nur eine Behauptung, getragen von der Annahme, hinter seiner Fassade sähe es nicht viel anders aus als bei mir. Über seinen Charakter weiß ich gar nichts, bin in meinen Vermutungen unentschieden zwischen normal und verrückt, aber was heißt das schon. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht, verstehe letztlich meine eigenen Beweggründe nicht. Bin auch nur ein Mensch, wie ich zu sagen pflege, Kind meiner Eltern, die wiederum Kinder ihrer Eltern sind. Kann sich keiner aussuchen, wollten sicher nur das Beste, und ich wollte nur weg von ihnen.
Und jetzt stehe ich hier und warte.

Habe meinen Weg gemacht. Das geregelt-mäßige Einkommen reicht gerade so für die zwei Kinder, den Mitgliedsbeitrag für den Kleingärtnerverein und für unseren alten Opel-Kombi. Dass ich hier am Fenster stehe, kostet wenigstens nichts, trotzdem heißt es dann: „Bist wohl bekloppt, jeden Tag nach drüben glotzen, als gäb’s da wunder-wer-weiß-was und anschließend dein ‘mal eben kurz die Beine vertreten’. Total verrückt das Ganze!“ hieß es dann, denn jetzt haben sie sich daran gewöhnt und bleiben vor dem Fernseher sitzen.
Da öffnet sich auf der anderen Seite das Fenster, und ich öffne mein Fenster. Auf den Zeitpunkt kommt es an. Hinter der Heizung ziehe ich vorsichtig-schnell meine Taube hervor. Papierfliegerbauen stand zwar auf keinem meiner Stundenpläne, aber es ist das Einzige aus der Schulzeit, worauf ich noch heute heimlich stolz bin, es bis zur Perfektion gelernt zu haben. Getragen von einem sanften Wind segelt das gefaltete Stück Papier bis zu hundert Meter über die Mauer hinweg in die Tiefe. Aber auch der andere versteht sein Handwerk.
Und nun zum Angriff.

Fast gleichzeitig schnellen die Flieger aufeinander los. Einmal trafen sie sich derart, dass sie gemeinsam auf der breiten Mauerkante landeten. Hin und wieder flog einer von uns, das heißt einer der Flieger so geradlinig und zielsicher, dass er den anderen noch auf dessen Seite zum Absturz brachte. So zum Verlierer geworden, musste der dann beim ‘kurz mal die Beine vertreten’ zwei statt wie sonst nur den Flieger des anderen aufklauben. Der konnte dann auch gleich zweimal unsere kurz und bündige Kriegserklärungsformel nachlesen:

Du bist schuld!
Du bist schuld!

Heute sind sie immerhin knapp aneinander vorbeigetrudelt, mit leichten Heimvorteilen für mich. Die Waffenruhe nach einem Angriff ist stillschweigend abgemachte Sache, so dass ich nichts zu befürchten habe, wenn ich meine Beute nun ziemlich nah an der Mauer in die Manteltasche stecke.
Erst zu Hause falte ich den Flieger auseinander. Den alt vertrauten Spruch zu lesen, gibt mir dann das Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit.

Aber versuch das mal meiner Familie, die ahnungslos vorm Fernseher sitzt, klarzumachen.
Die wollen doch nur in Frieden gelassen werden …

Aus:
Ulrich Karger & Kolibri: KopfSteinPflasterEchos, Edition Gegenwind – Tredition, Hamburg 2022

Ulrich Karger, geb. 1957 in Berchtesgaden, ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher für Kinder und Erwachsene. U.a. seine vollständige Nacherzählung von Homers Odyssee wurde im gesamten deutschen Sprachraum von der Kritik mit viel Beifall bedacht.
Zudem Verfasser von Literaturrezensionen für zahlreiche Tageszeitungen und Stadtmagazine, seit 1995 vornehmlich für den Berliner Tagesspiegel und sein Internet-Archiv „Büchernachlese“.
2010 begründete er das Label Edition Gegenwind, unter dem seither über 70 Titel von zehn Autor*innen erschienen sind.
Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Ulrich Kargers Homepage
Ulrich Karger (Wikipedia)

Kolibri, geboren 1951 als Werner Blattmann in Jestetten, studierte Grafik-Design in München und Stuttgart. Von 1979 bis 1984 tätig für die Die Tageszeitung (taz) in West Berlin, blieb er unter dem Künstlernamen „Kolibri“ auch danach in der Stadt als freischaffender Layouter, Illustrator und Zeichner. Seit 1996 wieder in Jestetten zeichnet und malt Kolibri nun in Farbe und in größerem Format.
U.a. Mitglied im Internationalen Bodensee-Club und mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2006 mit dem EnBW-Förderpreis.
Kolibris Homepage
Kolibri (Wikipedia)

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Ulrich Karger, die Bildrechte bei Kolibri.

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