Das Manuskript

Gastbeiträge

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Es war kurz vor Mitternacht, als er mich am Potsdamer Platz, wo einst die Mauer die Stadt teilte, heranwinkte. Der gut gekleidete Mann, der älter aussah, aber in meinem Alter war, wie sich später herausstellte, wollte zum Artemis, dem Großraumbordell am Ende des Kurfürstendamms. In der Hand hielt er ein Buch, in dem etwas steckte, das wie ein Manuskript aussah. Er lese gerade wieder Nietzsche, sagte er auf Nachfrage. „Ja, ja!“, meinte ich daraufhin, und: „Du gehst zu Frauen? Vergiss den Nietzsche nicht!“ In dem Fall würde er aber fahren, und eine Peitsche hätte er auch nicht dabei. Wohl wahr! Vermutlich kann man sich die im Artemis ausleihen. Ich war mir nicht sicher, obwohl auch ich schon im Artemis gewesen war. Für Taxifahrer gibt es einmal in der Woche Eintritt zum halben Preis. Das wollte ich mir ansehen. Zusammen mit einem Kollegen bin ich hingegangen. Gemacht haben wir nichts. So wie alle.

Mein Fahrgast war immer noch bei Nietzsche, und dass dieser den Gedanken an Selbstmord tröstlich fand. Er hatte ihm über manche schlimme Nacht geholfen, wie er an einer Stelle schrieb. Davon hatte auch ich schon gehört. Besser erinnerte ich mich an seine Klage, dass keiner zur rechten Zeit stirbt. Nietzsche selbst war ein Beispiel dafür. Das sah mein Fahrgast genauso, der jetzt lieber über das Artemis reden wollte. Er gehe immer mal wieder hin, auch wenn er nur selten einen hochbekomme. Das läge nicht nur am Alkohol und all den anderen Sachen, die er täglich zu sich nehmen müsse. Er sei dünnhäutig geworden, habe Mitleid mit der menschlichen Kreatur. Praktisch so wie Nietzsche, als er den Verstand verlor. Glaubt man der Legende mit dem Pferd, dem er in Turin um den Hals fiel, hatte er da immerhin Mitleid mit der tierischen Kreatur. Ein interessanter Vergleich, wie ich fand. Aber warum dann immer noch das Artemis? Wegen der Verfügbarkeit, so seine knappe Antwort.

Wir waren fast da. Die Frauen sind verfügbar an diesem Ort. Sie stellen sich aber nicht nur zur Verfügung, sondern machen auch noch den ersten Schritt dabei. Sie bieten sich an. Man kann sie nutzen und benutzen. Natürlich nur gegen Geld, das ist klar. Aber kostet am Ende nicht jede Frau Geld? Und würde ich ihn, ohne dass er mich bezahle, durch die Gegend fahren? Wohl kaum. Mit diesen Worten bat er mich an der Straße zu halten, was ungewöhnlich war. Die meisten Kunden lassen sich bis zur Tür vorfahren. Mir sollte es recht sein, auch wenn ich mich gerne länger mit ihm unterhalten hätte. Er gab gutes Trinkgeld. Ich wünschte ihm viel Spaß mit den Frauen, aber vor allem mit Nietzsche, den er jetzt wieder in der Hand hielt. Bereits beim Anfahren hatte ich das Gefühl, dass diesmal etwas anders war. Ich hatte Recht, das Manuskript war aus dem Buch herausgefallen und lag auf der Rückbank praktisch hinter mir. Ich hatte anhalten müssen, um es zu finden. Jetzt konnte ich aber nicht einfach zurückfahren, denn ich befand mich auf dem Autobahnzubringer. Ich musste erst einmal weiter fahren bis zum Messedamm, wo wenden eigentlich verboten ist. Ich wendete trotzdem und fuhr nun zurück zum Rathenauplatz, dem Ende des Kudamms mit seinen Beton Cadillacs. Kurz vor dem Platz gibt es eine Möglichkeit zum Wenden, was in dieser Richtung ebenfalls verboten ist. Ich tat es trotzdem und stand nur wenige Minuten später am Tresen des Artemis. Dort sagten mir die Damen, dass seit einer halben Stunde kein Kunde hereingekommen sei. Wem sollten sie also das Manuskript geben?

Es blieb mir nichts anderes übrig, als es erst einmal zu behalten. Wenn er nicht ins Artemis gegangen war, wo war er dann? Und was hatte es mit dem Manuskript auf sich? Letzteres interessierte mich mindestens genauso wie die Frage, wo mein Fahrgast abgeblieben war. Sein Manuskript war nicht dick, es waren knapp 100 Seiten, die allerdings mit kleiner Schrift eng beschrieben waren. Ich ließ das Taxifahren Taxifahren sein und las sie vorm Artemis stehend in einem Zuge durch. Im Großraumbordell schien nichts zu laufen, denn auch weitere halbe Stunden lang kamen nur wenige Kunden. Aus dem Artemis heraus kam gar keiner. Wenn bei den Nutten nichts läuft, läuft im Taxi erfahrungsgemäß auch nichts. Ich verpasste also nichts. Im Gegenteil. Der Inhalt des Manuskripts zog mich immer mehr in seinen Bann. Nicht so sehr, weil es gut geschrieben war. Das war es nicht. Aber dieser Mann hatte viel erlebt und vor allem viel gelitten. Was ihm am Stil fehlte, machte er durch Authentizität wett. Am Ende verstand ich auch, warum der Mann das Manuskript, das ich nachfolgend veröffentliche, ausgerechnet in einem Taxi hat liegen lassen. Dass es veröffentlicht wird, war der ausgesprochene Wunsch meines Fahrgastes, der verschwunden blieb.

Rumen Milkow. Trockener Berliner Taxifahrer, in dessen Taxi man zwar nicht telefonieren, dafür aber alles sagen durfte – sogar die Wahrheit.

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Rumen Milkow.

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