Ein schöner Sommerabend, ich gehe ins ‘Da Emanuel‘. Ich habe Lust auf ein Carpaccio, auf ein Glas Wein. Auf dem Bürgersteig vor der Tür des Restaurants wird ein Vorgärtchen simuliert, mit Topfbäumchen, einer Marquise, wenigen Tischen und Stühlen.
Am Nebentisch ein alter, ein sehr alter Herr – später wird er mir würdevoll sagen: „Ich bin 90 Jahre alt, meine Dame.“
Er ißt eine Tomatensuppe, nippt an einem Glas Wein.
Da es auf der Karte nur zwei Sorten Weißwein gibt – Soave und Frascati, ohne Jahresangabe – frage ich nach dem Hauswein. Der Kellner sagt lapidar: „Gut, Soave“.
„Na, bitte“, sagt der alte Herr am Nebentisch. –
Dies ist der Auftakt zu unserer Bekanntwerdung.
Nun bekommt er Vitello Tonnato serviert, isst genussvoll, in sich gekehrt, ruhig und ohne Unterbrechung, legt die Serviette, nachdem er sich zart und elegant mit ihr den Mund abtupfte, sauber gefaltet über den Teller, trinkt seinen Wein in klitzekleinen Schlucken, seufzt, lächelt plötzlich verschmitzt und schaut wieder zu mir herüber.
Noch reagiere ich nicht, spiele sein Spiel. Ich esse das Carpaccio, den Salat, trinke den schlichten Wein, lege die Serviette, wie eben bei ihm gesehen, sauber über den Teller, bitte um die Rechnung – da beginnt er zu sprechen.
Aus Berlin sei er, dort geboren, habe dort geheiratet, eine wunderschöne russische Emigrantin, zögert, jedoch nur kurz, in sich schauend, fragt mich, ob ich oft hier in S. sei. Er lebe hier, seit vielen, sehr vielen Jahren. Seine Frau sei nach dem Krieg nach S. gekommen, sie blieb hier hängen, sagte er, als das Haus, sein Haus, in Berlin durch eine Bombe zerstört wurde. Er sei ja eingezogen gewesen, nein, nicht als Soldat, als Polizist. In der Konservenbüchsenindustrie sei er tätig gewesen, in leitender Stellung, vor dem Krieg. Er hätte Vollmachten, Einfluss, gute Kontakte gehabt zu – nein, nicht nur Italienern, in Triest. Noch heute könne er nicht sagen, zu wem, eben Geschäftskontakte, ausbaubar, einsetzbar, auch in den schlechten Zeiten der … der Gefangenschaft in Jugoslawien, diesen furchtbaren vier Jahren der Gefangenschaft – jeder Gefangene an einen Jugoslawen gekettet.
Dass wir heute Serbien, Kroatien, Kosovo usw. zu unterscheiden wissen, dass es das alte Jugoslawien, sein Jugoslawien nicht mehr gibt – kein Wort darüber, er ist nicht im Heute. –
Er flüstert nun fast: In einer Turnhalle hätten sie diese Jahre verbracht, ohne Toilette, ‘im Rund‘ gehen müssend, immer im Rund und so redet er auch immer ‘im Rund‘, fängt, sich wie in einem Labyrinth vortastend, immer wieder von vorn an, fügt jedes Mal ein wenig mehr hinzu.
Fragt wieder, wie, um sich meiner Zuhörerschaft zu vergewissern:
„Sind Sie öfter in S.?“
Brav beantworte ich die Frage wie vorher auch, da beugt er sich zu mir, und, mit einem raschen Blick über die Schulter:
„Sitzt da wer? Hört da wer zu? Es könnte ja wer kommen und sagen, der da war dabei, der hat gewusst, was damals, da hinten in Jugoslawien, passiert ist.“
Ich beruhige ihn, nein, da sitzt niemand. Er spricht weiter, hastig, flüsternd: Wie er einen kleinen Zettel geschrieben habe. Denn jeder dort sprach deutsch – auch die Kaiserin, die sie dann ‘die Große‘ genannt hätten, die habe ja die Deutschen nach Russland gelockt und dann hätte man sie nicht mehr haben wollen, die Deutschen. –
Ich versuche einen Einwand: Katharina? Die Große? Was denn die mit Jugoslawien zu tun gehabt habe und die sei doch aber schon über 200 Jahre … er reagiert nicht, bleibt bei sich und dem ‘im Rund, immer im Rund‘.
Vier Jahre! Er hätte alles gesehen, alles mit ansehen müssen, sich geduckt, nur nicht auffallen, nur nicht Zorn hervorrufen bei denen, die, an ihn gekettet, mit ihm ‘im Rund‘ laufen mussten. Aber, er habe dennoch den Zettel geschrieben, sich einen Bleistift erbettelt, es geschafft, dass dieser Zettel an einen seiner alten Mitarbeiter der Konservenfabrik in Triest gelangte, dann an seine russische Frau. So habe sie erfahren: er lebt – und wieder die Frage: „Sind Sie öfter in S.?“
Ich bejahe auch dieses Mal. Er fährt fort mit: „Ich lebe schon lange hier …“, ich erschrecke, denke, wie stoppe ich den armen Mann, lächle, um Zeit zu gewinnen.
Er springt wieder auf die Zeit in Berlin, wieder zerstört die Bombe das Haus, ist die Frau in S., er in Gefangenschaft. Und wieder sieht er erschreckt über die Schulter. Da! Da sitzt jetzt ein junger Mann am Nebentisch, er liest eine holländische Zeitung, sieht sich kurz zu uns um. „Sehen Sie“, raunt der alte Mann, „da horcht er, das will er wissen.“ Ich beschwichtige, der Mann dort sei sicher Holländer. „Kann sein“, sagt er listig, „aber auch nicht, er ist nicht unbedingt Holländer, er liest vielleicht nur holländische Zeitungen, er tarnt sich“.
Er rückt etwas näher zu mir.
Und wieder beginnt die Litanei in Berlin, gleich darauf aber ist er in der Gefangenschaft, diesmal ohne die angeketteten jugoslawischen Bewacher, doch der Zettel, der, den er auf Umwegen an seine Frau geschickt hat, nimmt Gestalt an, bekommt Worte zur Gesellschaft, gewinnt Gewicht, obwohl nur aus wenigen Zeilen bestehend. Er scheint ihm wichtiger zu sein, als die Tatsache, dass seine Frau nun wusste: er lebt. Er hat sie überlistet, alle! Er hat den Zettel geschrieben. Er hat es geschafft, dass dieser Zettel weitergeleitet wurde, über viele, gefährliche Umwege zu seiner Frau gelangte.
Er schildert diesen Weg wie den gefahrvoll aufregenden Weg des Marco Polo über die Seidenstraße.
Er, der Gefangene, Gefangener seiner Geschichte, geht jeden Tag zu ‘Da Emanuel‘ essen, mittags und abends. Seine 90 Jahre Leben und Erleben haben ihm den Appetit nicht zerstören können. Nicht den Appetit auf Essen und Wein, nicht den Appetit auf seine Geschichte.
Ich frage mich, wem erzählt er sie morgen, wem hat er sie gestern erzählt. –
Da ist ein neuer Baustein. Seine Frau, sie ist seit drei Jahren tot. So einfach. Sie ist tot.
„Ich bin aus Berlin“, beginnt er, nach einer längeren Pause, sieht mich zwingend an, „ich wohne um die Ecke, hierher ist es nah … ich komme jeden Mittag, jeden Abend zum Essen.“ Er macht eine noch längere Pause, sieht in die unendlichen Weiten seines Gelebten.
Ich lächle ihn wieder vorsichtig an. Er kommt mir so erschreckend bekannt vor.
„Vier Jahre, angekettet, jeder an einen Jugoslawen. – Ich war kein Soldat, ich war nur Polizist.“
Und: „Sind Sie öfter in S.?“
Kornelia Boje – geboren in Berlin – 1942; Schauspielerin – Autorin – Fotografin
Publikationen: „Gesang der weißen Wände“, Roman & Hörbuch, PalmArtPress Berlin 2020; „Ullas Erwachen“, Roman & Hörbuch, Axel Dielmann Verlag Frankfurt a. M. 2005
Theater: Schauspiel Kiel, Schauspiel Darmstadt, Schauspielhaus Zürich, Schauspielhaus Hamburg, Schauspiel Köln, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Schauspiel Frankfurt, tri-bühne Stuttgart
TV- u. Filmrollen, Rundfunktätigkeit (Hörspiel – Literatur – Lyrik – Romanlesungen – Feature – Unterhaltung), Hörbücher, Synchronarbeit
Lyrik-Konzerte mit dem Duo Almuth Krausser-Vistél u. Douglas Vistél im CelloMusikSalon, Berlin
Foto-Ausstellungen in München, Köln, Berlin, Frankfurt, Kunst-Messen in Köln, Frankfurt u. Berlin
Kornelia Boje
Fotografie: Alben
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