Der Brief

Gastbeiträge

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Ich nahm den Brief in die Hand. Das Kuvert war aus dünnem Papier, hellblau mit rot-blau gestricheltem Rand, drei Briefmarken mit dem Konterfei Khomeinis, handschriftlich an mich adressiert. Drinnen befand sich ein dicht beschriebenes Blatt, auf dem sich die vertrauten persischen Schriftzeichen mit ihren vielen Punkten über und unter den Buchstaben aneinanderreihten. Ich verstand nichts.

Bei genauerem Hinschauen konnte ich in der ersten Zeile immerhin „Abbas“ entziffern, das war das einzige persische Wort, das ich jemals zu lesen und zu schreiben gelernt hatte. Solche Luftpostbriefe kannte ich aus meiner Kindheit. Hatte Mutter ein, zwei Wochen lang keine Nachricht von ihrer Schwester aus Teheran erhalten, wurde sie unruhig. Jeden Tag sah sie im Briefkasten nach. Fand sie endlich ein Schreiben vor, riss sie den Umschlag noch im Treppenhaus auf und las ihn atemlos. Die Neuigkeiten über unsere Tante und die sonstige Verwandtschaft erfuhren wir Kinder dann beim Essen. Den Brief beantwortete Mutter noch am gleichen Abend, brachte ihn am nächsten Tag zur Post, und von da an begann für sie wieder die Zeit des Wartens. Mich interessierten an der Sache nur die Briefmarken. Die verkaufte ich in der Schule für zehn Pfennige das Stück an Gottfried, einen blassen Jungen, der Bücher von Karl May las und Briefmarken sammelte. Ich war sein einziger Freund.

Ich selbst hatte mein Leben lang noch nie Post aus Iran erhalten. Dieser Brief stammte wahrscheinlich von einem Verwandten und war gewiss an Vater gerichtet, sagte ich mir schließlich, steckte ihn in die Innentasche meines Jacketts und fuhr meinen Computer hoch.

Aus:
Nassir Djafari: Der Großcousin. Sujet Verlag, Bremen 2024.

Nassir Djafari ist Schriftsteller. 1952 im Iran geboren, lebt er seit seinem fünften Lebensjahr in Deutschland.
Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre war er in verschiedenen Funktionen für die deutsche und internationale Entwicklungszusammenarbeit tätig, davon auch mehrere Jahre als volkswirtschaftlicher Berater in Peru und Polen.
Nassir Djafari hat zahlreiche Artikel und Buchbeiträge über die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Länder des globalen Südens veröffentlicht und sich zu integrationspolitischen Themen geäußert.
Im Jahre 2020 erschien sein Debütroman „Eine Woche, ein Leben“, 2022 sein zweiter Roman „Mahtab“. Im Mai 2024 erschien sein dritter Roman „Der Großcousin“.
Nassir Djafari

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Klaus Giegerich.

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