Der fliegende Robert

Gastbeiträge

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Ich hab keinen Hunger, muss nicht frühstücken aus Pflicht, muss keinem Frühstück machen neuerdings. Esse ein Brot, na gut, esse noch eins. Der Schimmel im Marmeladenglas ist die Erlaubnis aufzuhören.

Es klingelt, aber meine Tochter kommt nicht. Ich hatte sie schon im Arm, im Gefühl hatte ich sie schon. Aber sie wollte nicht, sagt der Schwager, der nur die Tasche holt. Sie wollte partout nicht.

Auf dem Balkon sitze ich und lese. Die freie Hand jeweils stecke ich mir in den Ausschnitt, halte meine warme Brust, blättere die Seite um und stecke die kalte Hand unter die andere Brust, halte das Buch mit der warmen Hand, die wieder kalt wird bis zum Umblättern, und so weiter.

Im Traum letzte Nacht hab ich alles wieder rückgängig gemacht. „’tschuldigung, hab’ mich geirrt.“ Er kam zurück, zog wieder ein, in sein Zimmer, ich raus aus seinem, in das, was meins war. Die Kinder waren dankbar, dass ihnen die Last genommen wurde, hin und her gerissen zu sein zwischen zwei Menschen, die bisher nur einer waren. Ein Elternmensch. Im Aufwachen, nachdem mir klar wurde, dass es ein Traum war und bevor mir einfiel, dass die Wirklichkeit auch kompliziert ist, das war der beste Moment.

Im ersten Klassenraum, in dem ich saß und lesen konnte, stand über der Tafel: „Man kann das Rad der Geschichte weder aufhalten noch zurückdrehen. Man kann und muss furchtlos vorwärtsschreiten.“ Lenin.

Gut. Das ist einfach. Immer weiter. Das passt mir in den Kram. In meinen Kram jedenfalls passt es, zu dem ein Mann gehört mit kräftigen Armen, die mir gefallen. In den Kram der Kinder passt der aber nicht.

Und was ist mit dem wunden Gelände in meinem Brustkorb, das von innen gegen die Schultern sticht wie kochender Dampf? Das sticht mich, wenn ich die Kette sehe, die liegt am Spiegel, ist plötzlich schön und hat mir nicht gefallen, als er sie mir geschenkt hat, der Mann, mit dem ich eins war und nicht nur für die Kinder. Wie lange wird das stechen? Ein See schwappt hin und her in mir, läuft über, wenn ich es gerade nicht will. Dann verzerrt sich mein Gesicht, was ich auch nicht will. Wie gestern. Abends alleine im Bad, wegen der Kette.

Danach bin ich so leicht geworden. Es gab Regen, der hat warme Pfützen dagelassen, ich stand auf der Straße, ohne Schuhe, nur um ein Kind ins Nachbarhaus zu bringen, weil’s nicht an die Klinke kam, dann zurück, die Türen offengelassen. Dann in der Wohnung wollte ich aber wieder in die Pfützen mit nackten Füßen. „Ich nehm’ keinen Schlüssel mit“, rief ich dem großen Sohn zu, der so groß ist, dass er am Computer sitzt mit Kumpel.

Nur drei Dinge am Leib: Rock, Hemd, Schlüpfer, weiter nichts, keine Tasche, kein Geld, kein Telefon, Ohrringe nicht mal, lief ich durch die Straßen. Leute vor einem Imbiss sahen zu mir, wie ich in der Pfütze umherlief, dann weiter zur nächsten, durch Touristenschwärme, fühlte mich unsichtbar, bis es dunkel und leer wurde. Ich konnte über das glänzende Kopfsteinpflaster gehen in der Mitte der Fahrbahn, darauf spiegelte sich oranges Laternenlicht und die Steine wölbten sich freundlich unter meinen nackten Fußsohlen.

Ich wollte ihn nicht verlassen. Verlassen werden schon gar nicht, aber etwas war stärker als der Wille, uns zusammen zu halten. Es spukt noch herum in mir und ich habe immer noch Angst davor. Wegen der Kinder und wegen der Sorgen und wegen des Gewissens.

Ich hab’ ihn gehütet, den Schatz: Familie. Das war’s, wofür ich gelebt habe. Ich muss ihm den Rücken kehren jetzt und verstehe dabei nicht meine eigene Grausamkeit. Ich seh’ zu, wie er sich windet mit abgehackten Körperteilen, stehe daneben und tue nichts. Sehe, wie die Kinder hin und her rennen, von ihm zu mir: „Hilf ihm doch!“

Nein. Das muss draußen herrlich sein. Wenn der Regen niederbraust und der Sturm das Feld durchsaust. Meinen Schirm erfasst der Wind und ich fliege dort durch die Wolken, immerfort, durch die Luft so hoch, so frei. Niemand hört mich, wenn ich schrei’. Mein Hut fliegt weit voran, stößt zuletzt am Himmel an. Wo der Wind mich hingetragen, tja, das weiß kein Mensch zu sagen.

Franziska Hauser, geboren 1975 in Berlin Pankow, ist Autorin und Fotografin. Sie hat zwei Kinder und zwei Enkel. Studium Bühnenbild und freie Kunst an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Studium Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer; Stipendium der Stiftung Kulturfonds. 2015 erschien ihr Debütroman „Sommerdreieck“ im Rowohlt Verlag, wofür sie den Debüt-Preis der lit.COLOGNE erhielt und für den ZDF Aspekte-Preis nominiert wurde. Zeitgleich erschien im Kehrer Verlag der Fotobildband „Sieben Jahre Luxus“.
Ihr zweiter Roman „Die Gewitterschwimmerin“ (Eichborn Verlag 2018) wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2018 Gewinnerin des Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerbs. Im selben Jahr Gründung der monatlichen Lesebühne „Des Esels Ohr“ (gemeinsam mit Kirsten Fuchs, Susanne Schirdewahn und Barbara Weitzel). Ihr dritter Roman „Die Glasschwestern“ erschien 2020 (Eichborn Verlag).
Sie schreibt und fotografiert für Das Magazin, Berliner Zeitung, FAZ, taz, Die Welt u.a.
Der vierte Roman „Keine von ihnen“ erscheint im Februar 2022. Ebenfalls bei Eichborn.
Franziska Hauser

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Franziska Hauser.

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