Die Nacht, in der ich im Meer ertrank

Gastbeiträge

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Während in Afghanistan immer mehr Menschen bei Bombenanschlägen ums Leben kamen, ging ich immer häufiger auf Reisen, lernte deutsche Städte und die deutsche Sprache besser kennen. Auch wenn ich mit dem Tod dieser Menschen nichts zu tun hatte, hatte sich in mir ohne mein Zutun der Gedanke festgesetzt, zwischen den Selbstmordattentaten dort und meinen Luxusabenteuern hier besteht ein kausaler Zusammenhang. Meine Zeit in Deutschland schien mit Menschenleben in Afghanistan erkauft.

Wobei meine Café-Besuche, mein Bierkonsum und vor allem meine ungestörten, erquicklichen Zugfahrten ganz so ungestört und erquicklich nicht waren, weil sie mit leisen Gewissensbissen einhergingen. Ich half mir, indem ich möglichst viel schrieb und den Sterbenden mit auf den Weg gab:

„Schaut! Ich habe die Zeit, die ihr mir gekauft habt, nach Kräften genutzt, und die gute Nachricht ist, ihr seid nicht umsonst gestorben. Dank eures Todes ist die Literatur heute reicher, die Beziehungen zwischen Afghanistan und Deutschland sind enger. Überzeugt euch selbst, hier sind meine Texte.“

Neben solchen Schilderungen handelt eine meiner Kurzgeschichten von Flüchtenden, die auf ihrem beschwerlichen Weg nach Europa vor der türkischen Küste ertrinken. Reaktion auf mein anhaltendes Schuldgefühl im Wissen darum, dass unzählige Menschen einsam in dunklem, eiskaltem Wasser ertranken, während ich unbekümmert und problemlos mit Turkish Airlines in Düsseldorf landete. Es wurde eine traurige Erzählung, ich konnte nicht anders. Wenn es nach mir ginge, würde ich so erschütternde Dinge nie schreiben, bei denen einem das Lachen für Stunden vergeht, weil ich weiß, dass die Leute ohnehin schon genug Kummer und Sorgen zu bewältigen haben. Aber ich muss die traurigen Gedanken, die erschreckenden Bilder um mich herum irgendwie verarbeiten. Über die Betroffenen zu schreiben, gibt mir das Gefühl, ihnen wenigstens annähernd gerecht zu werden, meine Schuld ihnen gegenüber abgetragen zu haben, weshalb sie allmählich ihrer Wege ziehen und mir etwas Frieden verschaffen. Unsere Beziehung beruht also auf Gegenseitigkeit. Im Laufe meiner jahrelangen Arbeit wurde mir bewusst, es ist bedeutsam, über das zu berichten, was ich sehe. Ein Autor versteht die Welt so: Alles geschieht, um geschrieben zu werden.

Aus:
Taqi Akhlaqi: Versteh einer die Deutschen. Sujet Verlag, Bremen 2024.

Taqi Akhlaqi wurde im März 1986 in Afghanistan geboren. Er war noch ein Kind, als seine Familie in den Iran auswanderte, wo er zur Schule ging. Im Jahr 2004 kehrte er mit seiner Familie nach Afghanistan zurück und studierte internationale Beziehungen an einer privaten Universität in Kabul.
Seine Liebe zur Literatur hat ihn in den letzten zwanzig Jahren zum Lesen und Schreiben bewegt und ihm geholfen, die Kriegsbedingungen in Afghanistan zu überleben. Für sein belletristisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen und Anerkennungen. Sein Debütroman „Kabul 1400“ (im Original auf Farsi/Dari geschrieben), ist im August 2023 beim Borj Verlag im Iran erschienen. 2018 erschien seine Kurzgeschichtensammlung „Aus heiterem Himmel“ bei der Edition Tethys in Potsdam. Sein Theaterstück „Ohne Tee kann man nicht kämpfen“ wurde im April 2024 in Mönchengladbach auf die Bühne gebracht und wird ab September 2024 in Krefeld zu sehen sein. Für die Neue Zürcher Zeitung berichtet er regelmässig über die Situation in Afghanistan. Seit September 2021, nach der Rückkehr der Taliban, lebt er zusammen mit seiner Familie als freier Schriftsteller in Berlin.
Taqi Akhlaqi

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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