Ludmila ist glücklich. Sie hat es geschafft. Nach 17 Jahren, die sie nun schon mit Sergeij das Bett teilt. Geschmäht von seiner Mama, seinen Geschwistern, seinen Freunden: „diese Schlampe, die von da hinten, wie kann er nur, unser Sergeij“. „Nein, diese Hure hat ihn verhext, ihn zur Memme gemacht.“
Sie hat es geschafft, sie, Ludmila! Heute, am Tage des Heiligen Sebastian, wird sie das Ja sagen, wird Sergeij das Ja sagen und sie, die ‚Scheusale‘ werden sich bei ihr entschuldigen müssen für all die Erniedrigungen und Beleidigungen, die sie ihr in diesen 17 Jahren angetan haben. Ludmila fühlt es schon, wie sie auf sie zukommen, sie umarmen, ihr die Wangen küssen müssen, ihr Kleid bewundern müssen, denn ihr Kleid – oh, ihr Kleid … sie dreht sich, sie schlängelt sich, sich bewundernd, sich im Spiegel verlierend, verschmelzend mit ihrem Kleid, dem weißen, in weichem, zart raschelndem Organza sich um sie bauschenden Gewölk, in das sie versinken möchte vor Verzückung. Sie strahlt sich an, wie sie nie in all den Jahren Sergeij angestrahlt hat; Sergeij, so unsicher, so ängstlich besorgt um die Meinung der ‚Scheusale‘. Sergeij, der regelmäßig ihren Geburtstag vergißt, sie regelmäßig ‚im Stich läßt‘, wie sie das nennt, wenn er untertaucht, bis zu drei Wochen, wie das russische Männer zu tun pflegten, in Sowjetzeiten, schon zu Zarenzeiten, so auch zu heutigen ‚demokratischen‘ Zeiten. Sergeij hat die ihm liebe Gewohnheit nicht abgelegt, er verschwindet, im Nirgendwo, Irgendwo – wenn ihn das exzessive Saufen ereilt, wenn ihm die Seele überläuft.
Sergeij hat in einer sangeswodka-liebesseligen Sekunde, die sie, Ludmila, blitzschnell ausnützte – die Gelegenheit ergriff, eingewilligt. Sie hat ihm ein schon lange in der Nachttischschublade wartendes Papier vor die in Wodka-Tränen schwimmenden Augen gelegt, und er hat brav unterschrieben, krakelig, doch jeder Buchstabe seines Namens erkennbar.
Und so konnte er nicht mehr zurück. –
Und so steht sie nun in ihrem weißen Kleid vor dem Spiegel und kann sich nicht satt sehen. Sie ist schön in ihrer Organzawolke, oh ja, und die ‚Scheusale‘ sollen schrumpfen, vor Neid und Wut knirschen, sich vor ihr verneigen. –
Sie haben das Ja gesagt, beide; ihres klang heiter beschwingt, seines wie ein im Flaschenhals steckenbleibender Korken, aber es war hörbar und somit ist ihr, Ludmilas Sieg, besiegelt – sie sitzt im Restaurant, umringt von seiner und nun auch ihrer zahlreichen Familie und seinen Freunden, fiebernd jeden mit randvollen Wodkagläsern auf sie erhobenen Trinkspruch erwartend. –
Da sitzt sie. In winzig kleinen Zügen atmend. Sie wagt nicht, sich zu rühren in ihrem weißen, organzaschimmernden Kleid, sie wagt nicht, die Mimik zu ändern, das Kleid könnte Schaden nehmen, sie sitzt und strahlt.
Die Sakuski, die Vorspeisen, werden gereicht, die Rote Beete Suppe. Sie flötet Sergeij, ihrem frisch Angetrauten, zu „die Suppe, ach ja, Serjoscha, bitte, bitte von der Suppe“. Ihr sonst eher blasser, leider zu hektischen Flecken neigender Teint beginnt sich zu verfärben, er nimmt eine ungesunde Rottönung an. Doch sie strahlt, die mühsam heiteren, mehr und mehr verkrampft lächelnden Blicke der Hochzeitsgesellschaft huldvoll entgegen nehmend, welche sich nach und nach in Fratzen verwandeln, als Aljoscha, der zappelige, quengelige Sohn von Sergeijs dicklicher Schwester Irina beginnt, mit dem Finger auf ihren von Organzarüschen mühsam bedeckten Busen zu zeigen.
So eng wird ihr um die Brust, so beißend eng, im Herzen ein brennender Stich. Aljoscha piekt mit den Fingern in die Luft, er kichert, prustet. Die restlichen ‚Scheusale‘ beginnen, ebenfalls kichernd, sich von ihren Sitzen erhebend, an ihr, an ihrem weißen, sich sanft um ihre berstenden Formen bauschenden Kleid zu zerren, zu schreien. Sie kreischen: „Da, da, da!“
Und da sieht sie es, es zerreißt ihr die Netzhaut in abertausende von Farbspritzern, es flirrt und flitzt um ihre Iris, es fährt ihr wie Feuer in die Adern, ihre Knochen schreien auf, die Haut brennt lodernd zu den Haaren empor und ein Aufschrei entwindet sich ihrer Kehle: „Rot! Rot! Rot!“
Ihr Kleid, ihr weißes, sie auf Organzawolken in lichte Welten tragendes Kleid, rotübergossen, besudelt, geschändet, die Rote Beete Suppe über das Dekolleté gegossen, sie den ‚Scheusalen‘ zum Spott vor die Füße geworfen!
Die Augen zu dem roten Schandmal vorstoßend, rotunterlaufen, verliert sie das Bewußtsein. Mit den letzten, gehauchten Worten: „Rot! Rote Beete, rot, so rot!“ quillt ihr ein Schwall roten Blutes aus dem Mund.
Die Hochzeitsgesellschaft, zurückweichend, starrt auf das ehemals weiße, nun über und über durch rote Beete und rotes Blut ruinierte Kleid, lauschen dem leisen Pffff der in sich zusammensinkenden Organzawolken.
Sergeij aber, wodkaumschäumt, Sergeij starrt ungläubig, wie ein Kind selig glucksend auf das Messer in seiner Hand, das Messer, von dem rotes Blut in dicken Tropfen perlt …
Kornelia Boje – geboren in Berlin – 1942; Schauspielerin – Autorin – Fotografin
Publikationen: „Gesang der weißen Wände“, Roman & Hörbuch, PalmArtPress Berlin 2020; „Ullas Erwachen“, Roman & Hörbuch, Axel Dielmann Verlag Frankfurt a. M. 2005
Theater: Schauspiel Kiel, Schauspiel Darmstadt, Schauspielhaus Zürich, Schauspielhaus Hamburg, Schauspiel Köln, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Schauspiel Frankfurt, tri-bühne Stuttgart
TV- u. Filmrollen, Rundfunktätigkeit (Hörspiel – Literatur – Lyrik – Romanlesungen – Feature – Unterhaltung), Hörbücher, Synchronarbeit
Lyrik-Konzerte mit dem Duo Almuth Krausser-Vistél u. Douglas Vistél im CelloMusikSalon, Berlin
Foto-Ausstellungen in München, Köln, Berlin, Frankfurt, Kunst-Messen in Köln, Frankfurt u. Berlin
Kornelia Boje
Fotografie: Alben
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