Die Welt ist ein Dorf

Shanghai

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Es ist kein schlechter Platz zum Warten. Die Sonne scheint mir freundlich ins Gesicht, die Vögel sitzen zwanglos zwitschernd auf den Bäumen und vor mir schwingt ein Straßenkehrer lustlos seinen Besen. Ich stehe sorglos, still und ungelenk an dieser Kreuzung und warte auf die Doris.

Phil hat mich vorhin hergebracht und auf dem Sozius von seinem Elektroroller macht’s ja auch deutlich mehr Spaß, die knapp neunhundert Hausnummern von ihrer Heimstatt zur gar nicht nahen U-Bahnstation zu überwinden. Das ist sonst schon ein strammer Marsch und bis auf die elendslange Baustelle und dieses spektakuläre Schlagloch gibt’s nicht wirklich viel zu bewundern, man muss das nicht gesehen haben.

Erstaunlich leise zieht der Verkehr an mir vorbei. Der Verbrennungsmotor, er wird schon rar in dieser Stadt, die kraftvoll Richtung Zukunft weist. Ich mache ein paar Schritte von der Kreuzung weg. Eben hat er noch gefegt, der Straßenkehrer, jetzt sitzt er müßig rauchend im mageren Schatten eines mickrigen Strauchs. Am Obststand gegenüber wechseln Jackfrucht und Papayas den Besitzer. Zwei Amerikaner gehen an mir vorüber, wir nicken einander flüchtig zu. Ein Hund uriniert auf einen ausgedienten Pflasterstein. Der Straßenkehrer hat seine Rauchpause beendet und wirft den Zigarettenstummel auf das Trottoir. Dann spuckt er hinterher, nimmt seinen Besen auf und setzt sein Tagwerk fort.

Kurz darauf kurvt Phil heran, quert forsch die breite Straße und Doris schält sich elegant vom Sozius.

Schon der Weg zum ‚Garten der Freude‘ ist freudvoll. Allenthalben blitzen ferne Wolkenkratzer auf, wenn sich nahe Gassen öffnen und ein Dickicht aus Stromleitungen fesselt nicht nur den Blick, sondern legt auch die niedrigen Häuser in Ketten. Ein Friseur döst friedlich im Schatten der langen Gartenmauer. Er ruht in seinem Arbeitssessel. Ein steinerner Kranich wacht über die schmale Gasse, thront auf moosbewachsenem Dach.
Der Garten der Freude ist nah

Kreisrunde Tore, überdachte Wandelgänge und fette Goldfische in den Teichen, das ist das alte China. Ein Drache fletscht die Zähne und schaut ganz böse drein. Aber womöglich muss er das, man nimmt ja keinen Drachen ernst, der niedlich in die Gegend blickt. Ein Krieger funkelt uns aus strengen Augen an, er hockt auf einem Dachvorsprung. Und doch ist dieser schöne Ort durchtränkt mit heiterer Gelassenheit. Man ist ja gut beschützt.
Chinesische Musik tönt schneidig aus dem Innenhof, dort hinten werken Musiker. Eh interessant, denk‘ ich mir noch und bin auch schon am Weitergehen, da spielen sie ein neues Stück. Das kenn‘ ich doch. Und zu den ersten Takten des Radetzkymarschs dreh‘ ich mich um, trau‘ meinen Ohren anfangs nicht. Und bin verblüfft.

Wir durchqueren die Altstadt auf Wegen, die zusehends namenlos werden. Eine Schule entlässt ihr junges Volk in den frühen Nachmittag, es wird schon von den Großeltern erwartet, und kurzzeitig wird es eng in den Gassen. Kleine Läden reihen sich aneinander, ein junger Hund verschwindet eilig um die nächste Ecke. Wäsche hängt an langen Leinen und den allgegenwärtigen Stromleitungen. Ein gelbes Fahrrad steht mitten auf der Straße.

‚Sag, haben wir uns verlaufen oder wissen wir noch ungefähr, wo wir sind?‘, meint Doris und ich schließe daraus, dass die Wahl des Plurals meine Ortskenntnis in Frage stellt. Zugegeben: es sieht momentan grad nicht so aus, als ob ich genau wüsste, wo dieser Konfuzius-Tempel ist. Was jetzt nicht heißt, dass ich nicht einen Plan hätte. Einen groben halt. Aber dem Kolumbus haben sie damals ja auch nicht geglaubt, dass sie je wieder Land sehen werden.

Der Menschen sind recht viele auf der Straße, es ist nur so, dass Englisch hier so oft gesprochen wird wie Aramäisch. ‚Ich glaub‘, wir müssten…‘, sagt die Doris, da bleib‘ ich abrupt stehen und spreche eine alte Dame an, die grad aus einem roten Haustor tritt. Und frage in meinem schönsten Chinesisch – ich bin noch immer stolz auf mich – ‚Wen Miao?‘
Umstandslos zeigt sie nach rechts und plaudert noch drei Sätze. Dann sieht sie ein, dass ich von ihrer Sprache so viel Ahnung hab‘ wie eine Sau vom Fliegen. Mir tut es leid, dass mir der Grätzltratsch entgeht, weil ob die dritte Tochter vom Nachbarn gegenüber was mit dem Schuster an der Ecke hat, ist ja immer interessant.
Aber wo der Konfuzius-Tempel liegt, das wissen wir jetzt.

Der Wind streicht sanft über den Teich, ein Pavillon lädt uns zur Rast. Ich höre einen Hahn krähen und denke mir: hier mag Shanghai zwar nicht am Puls der Zeit sein. Aber sein Herz, das schlägt ganz sicher hier. Dann drückt mir jemand ein Räucherstäbchen in die Hand.

Irgendetwas hat mich aus dem Schlaf gerissen. Ich blicke zu Doris, die tief in ihren Träumen liegt. Vorsichtig ziehe ich den Vorhang beiseite und trete auf den Balkon. Als ich nach links schaue, zum unbewohnten Nachbarhaus hin, bilde ich mir ein, wieder eine Frau zu sehen, die reglos steht und ganz in Rot gekleidet ist. Ich zwinkere. Es ist ganz sicher eine Reflexion, es muss ein Trugbild sein.
Ganz bestimmt.

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