Dorfgang. Herbst

Gastbeiträge

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Im Haus über der Straße versuchter Totschlag und missglückte Flucht aus einem Fenster. Die Puppe bleibt kopfüber mit ihren Beinen im Glas stecken. Eine Axt liegt im Hof. Kein Blut. Ein Mädchen sortiert leise singend Kieselsteine. Die Puppe ist vergessen.

Ich gehe vorbei und die Straße hinunter zum Dorfrand. Die Häuser werden kleiner. Ich gehe zurück, die Häuser werden größer, dann wieder kleiner. Klein mit Anbauten und Verschlägen. Schmaler Plattenweg zur Haustür. In der Mitte des Dorfes: Groß mit Vorbau und Säulen. Auffahrt mit Kies und gesäumt von Hortensien und Fahnenstange. Zweimal Jugendstil. Der Dom, dahinter das Pfarrhaus. Priester gibt es keine mehr. Ein Seelsorger managt mehrere Dörfer, Pastoralreferentinnen und Diakone stehen ihm bei.
Vorbei am Kriegerdenkmal mit dem Heiligen St. Georg. Die Einfassung mit Herbstblumen. Eine Karte vom Dorf im Schaukasten, ein Relief auf einem Podest, wie es früher einmal war, als die alte romanische Kirche noch stand, als der St. Georg in eine andere Himmelsrichtung schaute. Mehrmals wurde er gedreht.

Der nasse Nebel drückt sich zwischen die Häuser. An den Ästen hängen große durchsichtige Tropfen. Das Dorf eine weiße Wolke. Die Kirche hat keine Turmspitze mehr. Ich gehe auf der Hauptstraße. Die Durchfahrt von einem Dorf ins nächste und in die Kleinstadt. Bushaltestelle. Eine Friseurin. Keine Sparkasse mehr. Ein Postkasten, eine Bushaltestelle. Eine rote Bank. Wer da sitzt, will mitgenommen werden. Ein Schrotthändler in der Tankstelle. Eine Bäckerei, ein engagierter Dorfladen. Ich gehe vorbei. Leeres Haus, zu kaufen. Bewohntes Haus. Dorfrand. Sportplatz. Neue Häuser im Schwedenstil. Ein kleines Feuerwehrhaus. Zwei Betriebe. Ein Berg Zuckerrüben. Die weiße Luft ist nass. Kein Blick über die Felder.

Die Schafe tragen dicken gelben Winterpelz. Die Hortensien hängen weiß lila ausgebleicht und braun zwischen ihren Blättern. Der Nebel weht über die frisch gepflügten Äcker. Die Erdschollen glänzen dunkel. Auf dem Kanal steht die Luft grau in allen Farben und dicht. Das Schilf am Fluss ist geschnitten. Bagger schaufeln Schlick. Schwarz die Straßenränder. Dunkles Wasser steht in den schmalen Furchen auf den Wiesen. Der Kohl ist meterhoch, die Lauchstangen sind armdick. Die Wege zerfurcht.
Ich gehe vorbei an den Schafen, den Pferden, den bis an die Wolkenränder gestapelten Kartoffelkisten, an Männern, die Boote an Land hieven, vorbei an der kleinen Werft. Und wieder zurück. Der Abend wird eingeläutet.
Im Dorf ist es leise, niemand zu sehen im Nebel. Niemand da. Lichter verwischen. Ich gehe zu mir und im Himmel ist Jahrmarkt. So weit weg war ich noch nie. Und sei es in Gedanken.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. „Nachtzüge. Gedichte und gefundene Zettel“ (Geest-Verlag 2021), „Der Mann ohne Hände“ (zusammen mit Monika Detering, Geest-Verlag 2020), und „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020).
J. Monika Walther
Lesebuch Jay Monika Walther

2023 erschien: Fluchtlinien

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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