Dunkle Hotelzimmer

Gastbeiträge

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Ich duschte lange und lag dann für eine Weile auf dem breiten Bett und schaute an die Decke. Obwohl ich vorhin, auf dem Heimweg vom Restaurant, müde gewesen war, fühlte ich mich jetzt so, als würde ich noch lange nicht einschlafen können. Außerdem verspürte ich das diffuse Bedürfnis in mir, diese Nacht, immerhin die erste, die ich in einem eigenen Hotelzimmer verbrachte, gut zu nutzen, ohne eine Ahnung davon, wie ich das anstellen sollte.

Schließlich stand ich auf. Behutsam öffnete ich die Schiebetür zum Balkon und trat hinaus. Ich trug nur eine Unterhose und meine Haare waren noch feucht von der Dusche. Doch die Nachtluft war mild und lag wie eine wohlige Decke über dem Ort. Ich ging bis an die Brüstung und lehnte mich mit dem Rücken daran, so dass ich weit in den Himmel schauen konnte. Die Berge um uns herum waren dunkel und riesenhaft, die Sterne klein und hell und zahllos. Diesmal entdeckte ich das auseinandergezogene W der Kassiopeia sofort. Ich versuchte erneut, den Orion zu erspähen, um mich von dort auf die Suche nach dem Großen Hund zu machen. Ich hatte mir gut gemerkt, was mein Vater vorhin gesagt hatte und hoffte, dass es mir gelingen würde. Dann wäre ich es, der ihm morgen Abend, da würden wir schon wieder in Salzburg sein, den Großen Hund zeigen könnte. Vielleicht würde er auch gleich noch, so wie ich, auf seinen Balkon hinaustreten, und dann hätte ich das Sternbild schon entdeckt und könnte seinen Augen den Weg weisen. Ich gab mir große Mühe, irgendeine Ordnung in den leuchtenden Punkten zu finden. Unter mir hörte ich den Bach. Das glucksende Plätschern klang lauter als noch am Nachmittag und ich überlegte, ob es möglich war, dass er nachts mehr Wasser führte.

Meine Augen wanderten von einem Stern zum anderen, noch immer bemüht, irgendwelche Verbindungslinien zu ziehen, und dann noch weiter, bis zur Balkontür des dunklen Zimmers nebenan. Und dort blieben sie für eine ganze Weile hängen, bis ich verstand, was ich dort sah.

Die nackte Haut der Frau war fahl und doch hell hinter der Scheibe. Als würde auch sie ein eigenes Licht verströmen, wie die Sterne, die ich so lange betrachtet hatte, ein Licht, das aber aus der Nähe kaum mehr wahrnehmbar war. Ich sah ihre Brüste, die dunkleren Brustwarzen, die aufgerichtet waren. Ihr Bauchnabel war langgezogen und tief, nicht rund und mit einem knubbeligen Knoten versehen, wie bei mir. Zwischen ihren Beinen war ein Schatten, dunkler noch als der Rest. Ich spürte meinen eigenen Atem durch die leicht geöffneten Lippen. Die Nachtluft roch nach Blumen, die irgendwo blühen mussten, und nach Ziegen.

Die Augen der Frau, die für das Gesicht viel zu groß wirkten, schauten nach draußen, schienen aber auf nichts Bestimmtes gerichtet zu sein. Ihre schmalen Lippen waren zusammengepresst, als würde sie über etwas nachdenken, das nicht leicht zu entscheiden war. Und obwohl sie ihre Haare jetzt offen trug, wusste ich doch, dass ich die Frau schon einmal gesehen hatte. Es war die Frau mit dem streng gebundenen Pferdeschwanz, die am Nachmittag vor unserer Pension vorbeigegangen war, als ich auf meinen Vater gewartet hatte.

Im selben Moment, als ich das begriff, schaute sie plötzlich zu mir herüber. Zum zweiten Mal an diesem Tag trafen sich unsere Blicke. Ihre Augen wurden noch größer und ich sah, dass sie wusste, wer ich war. Und erst das ließ mich sicher sein, dass die Balkontür, hinter der sie stand, tatsächlich zum Zimmer meines Vaters gehörte. Ich weiß nicht, wie lange wir so verharrten und uns anstarrten. Irgendwann tat sie einen Schritt zurück und wurde mit dieser Bewegung vollständig von der Dunkelheit geschluckt, die hinter der Scheibe auf sie wartete.

Ich stand noch lange da und schaute zu dem Glas hin. Dann setzte ich mich auf den weißen Plastikstuhl, dessen rechtes Vorderbein unter meinem Gewicht nachgab, als wäre es bloß aus Gummi. Am Himmel blitzte eine Sternschnuppe auf. Ich wusste nicht, was ich mir wünschen sollte.

Aus:
Moritz Hildt: Wildnis. Drei Novellen, Berlin: duotincta 2022

Moritz Hildt, aufgewachsen zwischen Weinbergen und Pendlerzügen in Süddeutschland, lebt als freier Autor in Passau. Seine Geschichten kreisen um Menschen, die in ihrem Leben ins Straucheln geraten. 2019 erschien sein Romandebüt Nach der Parade im Berliner Verlag duotincta. Es folgten der Roman Alles (2020) und Wildnis. Drei Novellen (2022). Zur Zeit steckt Moritz Hildt Hals über Kopf in den letzten Feinschliffarbeiten an seinem neuen Roman, der 2025 erscheinen soll. Weitere Infos unter
Moritz Hildt

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Moritz Hildt, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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