Falsches Gold

Gastbeiträge

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Mein Vater trank Küppers Kölsch. Vierundzwanzig Flaschen Braunglas sind ein Kasten. Auf den Etiketten ein Köbes, der einen Kranz frisch gezapftes Bier in den Händen trägt. Der Schriftzug KÜPPERS KÖLSCH vor leuchtend hellgelbem Hintergrund. Schmale, elegante Buchstaben. Immer wenn ich an dieses Bier denke, muss ich auch an eine Nachmittagssonne denken, die durch die Küchenfenster scheint und den Linoleumboden weich macht. Die Genossenschaftshäuser am Stallberg – schwarzer Schimmel an den Außenwänden, Elke am Fenster mit Zigarette, der polnische Witwer im UG, der sein Leben lang bei Dynamit in der Fertigung gearbeitet hatte und immer noch nach Chemie stank. Die Kronkorken, die auf und unter dem Tisch lagen, sammelte ich in einer alten Zigarrenkiste. Der geriffelte Rand scharf an den Fingerspitzen, und das Gefühl, wenn das Weißblech nachgibt, sich nach kräftigem Druck in der Mitte zusammenfaltet. Die Kiste versteckte ich im Bettkasten.

Auf der Straße sagten die Leute: Pennerbier. In meinem dunklen Zimmer hörte ich das Lachen und die Stimmen von Männern, die nach dem zweiten Frühstück auf Baustellen und in Werkstätten tranken, Selbstgedrehte im Mund, einen Pfiff für die schönen Mädchen auf den Lippen. Gläserklirren, dann das Öffnen der Flaschen – ein kurzes Zischen, fast wie ein Faustschlag. Der Moment des Trinkens, stets in Gleichzeitigkeit, einem bestimmten Rhythmus folgend – der Durst, das Verlangen nach Rausch und die Stille, in der kein Wort mehr gesprochen wurde, in der nur die Kehlen arbeiteten. Der blaue Montag rettete.

Meine Mutter schmiss die Kiste mit den Kronkorken irgendwann fort. In den hellglühenden Sommertagen, wenn die Hitze den Verstand lähmt und die Zeit verlangsamt, saß ich im Schatten einer Zimmerecke. Auf den Straßen duftete es nach Zimt, über den geöffneten Fensterläden hing Wäsche zum Trocknen. Männer schleppten Mehlsäcke auf ihren Schultern, Kinder ließen Murmeln aus buntem Glas über den Asphalt springen. Manchmal ging ich runter in den Garten und legte mich unter die alte Linde, den Kopf an die Backsteinmauer gelehnt. Der Himmel war Flucht. Endlose Weite. Ich träumte.

Heute sehe ich kaum noch Küppers Kölsch in den Regalen der Geschäfte. Männer wie mein Vater und meine Onkel sind verschwunden. Manche von ihnen sind vom Dach gefallen und einfach liegen geblieben. Manche sind in Maschinen geraten und haben Gliedmaßen verloren. Der blaue Montag verschwand. Die alte Linde. Die Genossenschaftshäuser. Auf den Brachen steht jetzt ein großes Schild: Neubauwohnungen. Zwischen Birken und schwarzem Holunder fand ich eine Scherbe aus braunem Glas. Aber nein, dachte ich, das kann nicht sein, es ist einfach nur eine Scherbe. Trotzdem habe ich sie mitgenommen und auf das Grab meines Vaters gelegt. In den Nächten danach habe ich von den Kronkorken geträumt. Ich sah sie vor mir, wie sie in der Zigarrenkiste liegen, funkeln und leuchten. Warum ich angefangen habe, sie zu sammeln, weiß ich gar nicht mehr. Vieles geht auf dem Weg verloren und kommt nie wieder. Am Ende hat nichts mehr Bedeutung. Wir alle werden verschwinden.

Sven Heuchert. Geboren 1977 in der rheinländischen Provinz. 1994 dann Lehre, seitdem in Arbeit. Erste Kurzgeschichte „Zinn 40“ noch in der Schule. Mit neunzehn Umzug nach Köln. Liebe, Reisen, kleine Niederlagen, große Niederlagen. Rückkehr in die Provinz. Einen Preis.
Zuletzt erschienen: „Kleiner Glanz“, Stories, Duotincta Verlag, Berlin 2020 und „Asche“, Duotincta Verlag, Berlin 2022 (4. Neuauflage).
Sven Heuchert

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Sven Heuchert.

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