Gnade

Aus dem Alltag

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Mutter lacht. Es ist schön, sie so fröhlich zu sehen. So sorglos. Ich scheine einen ihrer glücklichen Tage erwischt zu haben. Einen, an dem die Schmerzen im Hintergrund lauern. Erträglich sind. ‚Schau‘, sagt sie und deutet auf das Blumenbeet, das der Nachbarschaftsverein im Vorjahr angelegt hat, gleich neben dem kleinen Café. ‚Die Astern blühen heuer besonders schön.‘

Sie greift nach der Tasse und nimmt einen Schluck vom Milchkaffee. Stellt sie wieder ab, die Finger zittern ein wenig. Nie, denke ich mir, habe ich sie mehr als einen Schluck trinken sehen. Ist das nicht eigenartig? Kann man ein Leben schluckweise aufbrauchen? Ich blinzle und wische den Gedanken beiseite. ‚Kommst du zurecht, Mutter?‘, frage ich und spüre, wie mich das schlechte Gewissen drückt. Wie es mir die Kehle austrocknet, dass ich mich räuspern muss. Ich greife nach dem Wasserglas und trinke gierig.

Mutter sieht mich an. ‚Es geht mir …‘, sagt sie. Hält inne und sucht nach einem Wort, das sich nicht finden lassen will. ‚Gut‘ läge auf der Hand, doch sie will es nicht sagen. Wir wissen beide, dass es eine Lüge wäre. Ich bin ihr dankbar, dass sie es sein lässt. Wir haben einander oft genug belogen, es reicht für zwei Leben.
Doch ehrlich zueinander können wir auch nicht sein.

Vaters Tod vor sechs Jahren, er hatte uns nur weiter entzweit. Meine Besuche wurden seltener, ich schob feige die Arbeit vor. Die vielen Reisen. Über mein Älterwerden übersah ich schließlich das ihre. Wie ist das möglich, frage ich mich und sehe auf ihre von Altersflecken übersäten Hände: dass man sich ein Leben lang kennt und einander doch merkwürdig fremd bleibt.
Meine Kehle ist immer noch trocken. Mein Wasserglas leer.

‚Wie geht’s in der Arbeit?‘, fragt sie und ich weiß, dass sie es aus Höflichkeit tut und nicht aus Interesse. Ich zögere einen Moment, schiebe mir die Wirklichkeit zurecht. Mir ist bewusst, dass sie bloß hören will: alles in Ordnung, die Welt ist fein. ‚Gibst du mir bitte den Zucker, Kind?‘, fragt sie, als ich nicht gleich antworte. Ich mache es. Bringe kein Wort heraus. ‚Prächtig sind sie, die Astern. Heuer blühen sie besonders schön.‘, sagt Mutter und schaut Richtung Blumenbeet.

Wie alt, frage ich mich, war ich, als sie das Interesse an mir verlor? Echtes Interesse. An meinen Gedanken, meinen Vorstellungen über die Welt. Meinen Plänen und Träumen. Ich kann es nicht sagen. Tippe auf elf oder zwölf. Früh genug. Viel zu früh. ‚Was für ein schöner Tag. Was für eine schöne Überraschung, dass du mich besucht hast.‘, sagt Mutter und lächelt. Ich nicke. Senke meinen Blick. Sehe auf meine Finger, die keinen Halt finden. Nicht wissen, wohin.

Plötzlich wirkt sie müde. Die Schmerzmittel. Die Aufregung über meinen Besuch. Die Anstrengung, die es kostet, den Schmerz zu verstecken. Die Oberfläche war ihr immer wichtiger gewesen als die Wahrheiten, die sich darunter tummelten. Vater konnte das nicht begreifen. Mutter konnte es nie in Worte fassen.
Ich habe immer darunter gelitten.

Sie nippt noch einmal am Kaffee, trinkt den letzten Schluck. Dreht den Kopf, schaut sich um nach der Kellnerin. Ich beuge mich vor, nehme ihre rechte Hand. Lege sie in meine. Mutter erschrickt, sieht mich an.
Zwei Tische weiter weint ein Kind.

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