Helga

Gastbeiträge

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Persönliche Erinnerungen von Menschen, deren Erzählungen, aber auch Erinnerungen von Erzählungen anderer, die Oral History, und seien sie noch so banal, bieten uns, den Spätgeborenen, nebst der Erfassung der sogenannten Hard Facts die Möglichkeit, das Lebensgefühl unserer Vorfahren, die Umstände, unter denen sie gelebt haben, sogar ein Stück weit atmosphärisch nachzuempfinden. Und auch wenn die mündliche Überlieferung der Historie bezüglich ihrer Überprüfbarkeit und der Festmachung von Fakten freilich immer hinterfragt und sogar mit Recht auch angezweifelt werden muss, da sich Erinnerungen mit der Zeit zu wandeln beginnen – werden sie doch jedes Mal neu abgespeichert, nachdem sie abgerufen wurden, immer angereichert mit dem während des Abrufens und nochmaligen Durchlebens herrschenden Stimmungszustand –, wird ihnen mittlerweile auch in der Forschung ein wichtiger Stellenwert beigemessen.

Doch es gibt noch eine weitere, gar nicht genug zu würdigende Qualität dieser durchaus literarisch zu wertenden wissenschaftlichen Methode der Geschichtsschreibung: Sie schafft es mitunter, die Mechanismen von etwas Unfassbarem wie dem nationalsozialistischen Terror zumindest ansatzweise begreiflich zu machen. Es gibt wertvolle und lesenswerte literarische (Canetti) sowie wissenschaftliche (Klemperer) Abhandlungen über die Frage, wie sich eine weltweit als Kulturnation geltende Gesellschaft über Nacht in eine Horde brüllender, hassender und mordender Bestien verwandeln lässt. Doch es ist beileibe kein Leichtes zu verstehen, wie die Massenhysterie beim Individuum beginnt, was es braucht, dass der Mensch die Menschlichkeit verliert, oder wo der Ursprung der Bereitschaft zur Barbarei zu suchen ist.

Folgende Erzählung habe ich einer Arte-TV-Dokumentation über die ersten Tage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 entnommen. Die Geschichten von fünf Zeugen jener Tage dieses Staatsstreichs, der mit breiter Zustimmung und auch unter dem Jubel weiter Teile der Bevölkerung erfolgt ist, bildeten die Grundlage für den Film. Die Aussagen wurden mit Archivbildern untermalt und von Schauspielern gesprochen. Einer dieser Berichte hat mich besonders berührt, sodass ich diese Worte, besser: diese Geschichte aus dem Medium Film heben und auf ein Blatt Papier legen will, auf dass sie in literarischer Form weiterexistieren möge. Die nun folgende Geschichte ist ein gnadenloser Schaltplan des Mitläufertums.

„Friedrich Roiss erzählt: Ich kündigte der jüdischen Familie, bei der ich gewohnt hatte, mit einer Ausrede. Frau Bettina weinte: ‚Ich weiß, Herr Roiss, Sie müssen wegziehen‘, sagte sie mir, ‚ach Gott, was soll das werden? Mein Mann ist im Feld gefallen, alles Vermögen haben wir verloren, meine beiden Söhne hatten eine Stelle in einem Warenhaus und mussten heute entlassen werden, ohne Kündigungsfrist.‘ – Ich zog zu einer urdeutschen Familie. Bei der neuen Familie war eine 14-jährige Tochter. Sie kam heim, bleich, und erzählte: ‚Heute kamen ein paar Mädchen von der Hitlerjugend in den Schulhof. Sie warfen die kleine Helga, die Tochter eines jüdischen Arztes, zu Boden und sprangen immer wieder auf ihren Leib. Wir wollten ihr so gerne helfen, aber da kam unsere Lehrerin und sagte: Auf welcher Seite finde ich meine deutschen Mädchen? Und da sprang eine nach der anderen von meinen Klassenkameradinnen mit auf Helga herum, und am Schluss hab ich auch mitgemacht, bis sie aufhörte zu weinen. Und jetzt ist sie tot. Und wir hatten sie alle so gern.‘“

Aus:
Armin Baumgartner: „Klopfzeichen aus der Vergangenheit“, Verlagshaus Hernals, Wien 2023

Armin Baumgartner. Geboren 1968 in Neunkirchen, NÖ. Lebt und arbeitet in Wien als Korrektor und Schriftsteller. Schreibt hauptsächlich Prosa, aber auch Lyrik („Knappe Titel“, gemeinsam mit Rudolf Kraus, Verlagshaus Hernals, Wien 2021) und Drama. Mehrere Einzelpublikationen, diverse Beiträge in Literaturzeitschriften und Anthologien sowie im Feuilleton. Mitglied der GAV, des Literaturkreises Podium und seit 2021 im Vorstand des Österreichischen SchriftstellerInnenverbands tätig.
Preise und Auszeichnungen (u. a.): Die Goldene Margerite 2004, Alois-Vogel-Preis 2014, Projektstipendium 2016/17 des BMUKK, Mehrere Arbeitsstipendien des Kulturministeriums

Einzelpublikationen:
„Brammer sieht Schwarz und sie lesen etwas“ (Triton, Wien 2002)
„96 – das fremde buch in mir“ (uhudla-A, Wien 2006)
„Die Wucht des Banalen“ (Kitab, Klagenfurt 2012)
„Almabtreibung“ (Kitab, Klagenfurt 2014)
Knappe Titel“, gemeinsam mit Rudolf Kraus (Verlagshaus Hernals, Wien 2021)
„Klopfzeichen aus der Vergangenheit“ (Verlagshaus Hernals, Wien 2023)

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Armin Baumgartner.

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