Hinter der Zeit

Aus dem Alltag

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Musik. Welche Macht sie doch besaß, dachte sie. Wie tief sie in die Seele schnitt. War es nicht merkwürdig, fragte sie sich, dass sie das jetzt erst begriff; hier, auf dieser Kirchenbank, auf der sie saß, reglos, stumm? So also, mit dieser Erkenntnis, dass die Messe zu Ende ging, der Chor noch ein Lied sang. Ihr Blick hing, schwer, am Sarg der Mutter. Der Bruder, neben ihr, weinte. Das Gesicht des Vaters sah sie nicht.

Zu erleben, wie die Menschen im Dorf Anteil nahmen am Tod der Mutter, Leid des Vaters, war tröstlich gewesen. Dem Vater hatten sie in die Augen gesehen, ihm zugenickt. Zwei, die ihm die Hand auf die Schulter gelegt, ein paar Worte geflüstert hatten. Kaum einer, der sie, die Tochter, beachtet hatte. Es machte ihr nichts aus. Die wenigen, die ihren Blick gesucht, den Kopf geneigt hatten, kannte sie nicht.

Am Friedhof dann, vor dem offenen Grab, dass zur Trauer Leere kam. Ein paar Worte noch, die der Priester sprach, schon war da nur der Schrei einer Krähe und das Geräusch, das eine Handvoll Erde machte, die kalt auf den Sarg fiel. Sie biss sich auf die Unterlippe, wollte nicht weinen. Tränen, fand sie, standen ihr nicht zu. Ein Gebet noch, dachte sie; die Mutter war ja gläubig. Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, begann sie also, sah ins Grab, dachte an die Mutter, wie sie war, in besseren Tagen. In den guten. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Ihre Lippen formten das Gebet, reihten Silbe an Silbe. Unser tägliches Brot gib uns heute, flüsterten sie. Verstummten. Sie sah auf, war irritiert. Sah auf den Sarg und wusste nicht weiter. Gehen wir, sagte der Bruder, nahm den Vater an der Hand. Sie nickte, ging, der Schwägerin hinterher.

Am Friedhofstor, dass sie stehenblieb. Sie sah ein Bild vor sich, in sich, klar, detailreich, plastisch. Sie sah das Kind, das sie gewesen war, vor langer Zeit, vor vielen Jahren. Das Kind, das in Glasscherben getreten war, weinte. Und sie sah die Mutter, die sie tröstet, in ihre Arme schließt. Es wird gut, flüstert die Mutter. Der Schmerz vergeht.
Tränen schossen ihr in die Augen, als sie den Kopf wandte, zum Grab der Mutter sah. Nun, dass er da war, der nächste Satz im Vaterunser. Und sie konnte ihn sagen.

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