Die Mittagssonne sendet ihre sengenden Strahlen zur Erde, die Landschaft dehnt sich sonnendurchglüht bis zum Horizont. Ich bin unterwegs in Ecuador. Kein Baum, dessen Schatten mich vor der Hitze schützen könnte, einzig Gräser und Büsche, mit Dornen und Stacheln bewehrt, bedecken spärlich den Boden. Der würzige Duft, den sie aussenden, verstärkt mein Hungergefühl.
Meine Füße, müde und schwer, sehnen sich nach einer Rast.
Mühsam schleppe ich mich weiter, in Richtung der Felsen, wo es Wasser geben wird. Am Abend erreiche ich ein felsiges Tal, kristallklares Wasser rauscht über Kiesel. Erleichtert tauche ich die Hände hinein, lösche meinen brennenden Durst. Vorerst ist auch der Hunger gestillt, weil der Magen mit Wasser gefüllt ist.
Ich habe kaum noch Lebensmittel, denn ich bin schon tagelang unterwegs, weitab jeder Siedlung. Unter funkelndem Sternenhimmel liege ich im Schlafsack und gönne mir drei Stück Schokolade. Satt bin ich keineswegs, ich bin hungrig, aber glücklich. Es ist das Glück, das mir die wilde Natur schenkt.
Dennoch ist mir klar, es wird Zeit, meinen Weg wieder in bewohnte Gebiete zu lenken. Zu Fuß in der Wildnis unterwegs zu sein, hat einen entscheidenden Nachteil: Lebensmittel kann ich nur so viele mitnehmen, wie ich an Gewicht tragen kann.
In der Morgendämmerung wache ich auf. Den Himmel färbt im Osten ein rötlicher Schimmer. Ich lausche hinein in das Schweigen zwischen verlöschender Nacht und neuem Tag, fühle mich aufs Innigste verbunden mit der Natur, bin untrennbar ein Teil von ihr. Mein Frühstück besteht aus Nüssen und getrockneten Früchten. Wie gut, dass ich allein bin, denke ich mir. Ein hungriger Magen und anstrengende Wanderungen würden nur zu Streit führen.
Schon als Kind infizierte ich mich mit der Sehnsucht nach der Ferne. Sie prägte mich und bestimmt mein Leben bis heute. Es bedeutet für mich Freiheit, am Morgen nicht zu wissen, wo ich am Abend schlafen werde. Manchmal habe ich ein Zelt dabei, meist nur einen Schlafsack, um mehr Nahrungsmittel einpacken und so länger in der Wildnis bleiben zu können. Die Verpflegung muss leicht an Gewicht und dennoch nahrhaft sein: Nüsse, Schokolade, Trockenfrüchte, Milchpulver zum Beispiel. Mein Körper ist darauf trainiert, leistungsfähig zu sein, auch wenn er tagelang mit wenig oder sogar ohne Nahrung geblieben ist.
Einen Kocher verwende ich nur bei Wanderungen, bei denen ich nicht fernab von Siedlungen bin. Ich habe die verschiedensten Kocher ausprobiert, aber alle haben einen entscheidenden Nachteil – sie benötigen Brennmaterial: Gaskartuschen, Benzin, Petroleum, Spiritus. In unbesiedelten Gegenden bekomme ich keinen Nachschub und im Rucksack kann ich nicht ausreichend Kartuschen mitschleppen. Deshalb lasse ich den Kocher bei Wanderungen in Wildnisgebieten meist zu Hause. Allerdings – einen Topf habe ich fast immer dabei und ebenso unentbehrlich ist ein Keramikfilter, damit ich mir Trinkwasser bereiten kann. Äste, Zweige, Wurzeln finden sich fast überall, mit denen sich in einem Hobo die notwendige Hitze erzeugen lässt.
Es ist ein praktisches und leichtes Gerät, benannt nach den Hobos, den Wanderarbeitern Nordamerikas. Sie hatten sich ihn aus plattgeklopften Konservenbüchsen selbst gebastelt, ich habe ihn in einem Geschäft gekauft. Es ist ein oben und unten offenes Metallgefäß, lässt sich zusammenklappen und basiert auf dem Kamineffekt, wobei er höhere Temperaturen erzeugt als ein Spirituskocher. Zudem habe ich inzwischen Übung, auch unter widrigen Wetterbedingungen ein Feuer entzünden zu können.
Meinen Speisezettel ergänze ich gern, indem ich unterwegs nach essbaren Pflanzen Ausschau halte und Beeren und Früchte sammle. Hilfreich ist es, dass ich mich mit Pilzen gut auskenne. In der Mongolei wuchsen Pilze in unerschöpflichen Mengen und da keine Pilzsucher unterwegs waren, wie in Deutschland, hatte ich sie ganz für mich allein, sodass ich jeden Tag ein anderes Pilzgericht ausprobierte: Pilze gebraten, gedünstet, gekocht, als Beilage zu Reis, Nudeln oder Kartoffeln, als Salat oder mit Zwiebeln. Bei dieser Tour musste ich nicht Hunger leiden, denn all diese Nahrungsmittel trug mein Packpferd. Ähnliches Pilzglück hatte ich in Island und alle Arten dort waren mir aus Deutschland bekannt. In Südamerika wiederum gedeihen Pilze, die zur Familie der Boviste gehören und riesengroß sind. Ich entdeckte die weißen Kugeln, groß wie ein Fußball, schon von Weitem.
Es ist jedoch ein Trugschluss, sich allein aus der Natur ernähren zu wollen. Wenn man wandern und vorankommen will, kann man nicht dauernd Beeren pflücken und Pilze suchen, zudem gibt es sie nur zu bestimmten Zeiten und sie decken nicht den Kalorienbedarf eines Menschen. Auf Dauer kommt es durch einseitige Ernährung zu Mangelerscheinungen, Nahrung aus der Natur kann also immer nur ein Zubrot sein.
Bei meiner Durchquerung der Anden Ecuadors musste ich daher immer wieder in die Täler absteigen, um mich in den Dörfern und auf den Märkten mit Lebensmitteln einzudecken. Diese Landschaft ab einer Höhe von über 3000 Meter wird in Ecuador Páramo genannt, es ist eine baumlose Hochgebirgssteppe. Außer hartem Pampagras und stacheligen Büschen gedeiht wenig in diesem rauen Klima. Umgeben von Regen, Wind und Nebel, unter einem grenzenlosen Himmel wandere ich durch das karge, menschenleere Ödland. Ich empfinde mich als winziges Pünktchen in dieser endlosen Graslandschaft. Mein Sein wird aufgesogen von der unerbittlichen Strenge dieser Erde ohne Maß, ohne Grenzen. Immer möchte ich so weiter wandern und diese Freiheit nie mehr aufgeben – doch irgendwann spüre ich meinen Körper. Er verlangt nach Nahrung.
Für eine Kochstelle lege ich ein paar große Steine zusammen, den praktischen Hobo habe ich diesmal nicht dabei. Trockenes Gras, Wurzeln und Zweige finde ich in ausreichender Menge. Bald qualmt ein Feuer und ich koche einen Gemüseeintopf. Die Zutaten habe ich im Marktort Ambato gekauft. Einen Teller habe ich nicht und esse aus dem Topf, den ich dann mit einem Stück Brot reinige, das ich getränkt mit den schmackhaften Suppenresten als Nachtisch verspeise. Ich freue mich, den Eintopf bis zum letzten Rest ausgenützt zu haben. Dann fülle ich den Topf, ich habe nur einen dabei, mit Wasser, um mir Tee zu brühen. Auf der Suche nach mehr Brennmaterial, damit das Wasser kocht, entdecke ich im Geröllstaub runde Trittsiegel.
Um einen großen Mittelballen gruppieren sich fünf rundliche, kleine Zehenballen – wie bei einer Hauskatze. Weitab jeder Siedlung kann es sich nur um eine wilde Katzenart handeln, vielleicht die sehr scheue Pampakatze. Vorsichtig folge ich der Spur und hoffe, das Tier irgendwo zu entdecken. Die Augen in die Ferne gerichtet, wo sich die Wildkatze verstecken könnte, stolpere ich fast über ein braunes Fellbündel mitten auf dem Wildwechsel. Es ist ein totes Kaninchen.
Offensichtlich hat es die Pampakatze erbeutet und fallen lassen, als sie mich bemerkte, denn ohne Beute konnte sie schneller flüchten. Der Körper des Kaninchens ist noch warm und weich, von außen sind keine Verletzungen zu entdecken. Die Kaninchen in den Anden sind kleiner als ihre europäischen Verwandten. Der Kopf ist fast kugelrund und die Ohren kürzer, dafür sind die Augen groß wie Murmeln. Ich lege das Tier zurück und beobachte von Weitem mit dem Fernglas, ob die wilde Katze zurückkehrt, zu gern würde ich sie sehen.
Später gebe ich die Hoffnung auf, dass sie kommt, solange es hell ist und ein Gedanke nimmt Formen an. Zwar gehört das Kaninchen rechtmäßig der Wildkatze, schließlich hat sie es gejagt, doch mein Appetit auf einen Braten wird immer stärker. Knuspriges, zartes Kaninchenfleisch, das wäre durchaus eine Verbesserung meiner Verpflegung. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht hat sich die Katze zu sehr erschreckt und kommt auch in der Nacht nicht zurück, denke ich mir. Dann wäre das arme Kaninchen umsonst gestorben. Schade um das Fleisch, denn es würde verderben. So eine Pampakatze ist bestimmt geübt im Jagen und hat vielleicht schon ein nächstes Kaninchen erlegt, beruhige ich mein Gewissen und – hole mir die Beute.
Das Abziehen des Felles bereitet mir keine Mühe, habe ich doch ein scharfes Taschenmesser dabei. Ich ritze die Haut am Bauchfell zwischen den beiden Hinterläufen und passe auf, dass die Klinge nicht die Bauchhöhle verletzt. Mit den Fingern fahre ich dann in den Schlitz, erweitere ihn vorsichtig und löse das Fell vom Körper. Kaum habe ich die Innereien einige Meter entfernt auf den Boden gelegt, stößt ein Greifvogel herab, den ich, beschäftigt mit dem Braten des Kaninchens, vorher am Himmel nicht bemerkt habe.
Auf einen Stock gespießt, drehe und wende ich das Fleisch über der Glut. Gut durchgebraten, mit Salz und Pfeffer bestreut, schmeckt das Kaninchen vorzüglich zum Tee.
Carmen Rohrbach, geboren in Bischofswerda. Biologie studiert und von der Neugier auf die Welt gepackt. Wegen des Versuchs, der DDR zu entkommen, zwei Jahre inhaftiert. Von der Bundesrepublik freigekauft, promovierte sie am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie. Erhielt einen Forschungsauftrag, der sie auf die Galapagos-Inseln führte. Lebte ein Jahr lang auf einer kleinen Insel, unter Meerechsen und der Sonne des Äquators. „Inseln aus Feuer und Meer“ entsprang dieser Erfahrung, zahllose Bücher folgten.
In ihren Büchern lässt sie die Leser Anteil nehmen an ihren abenteuerlichen Reisen nach Südamerika, Afrika, Asien, Arabien. Seit vielen Jahren zählt sie zu den populärsten deutschen ReiseschriftstellerInnen. Ihre jüngste Publikation, „Mein Blockhaus in Kanada“ (Malik Verlag, 2019), handelt von einer Reise in die Stille des kanadischen Winters, drei Monate voll Einsamkeit. Als Weggefährten Luchse, Elche, Weißkopfseeadler. Und die Kälte.
Carmen Rohrbach
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