Ibrahim

Aus dem Alltag

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Er saß links von mir. Hockte wie ich auf den Steinen, die der Fluss angeschwemmt hatte, den Blick aufs Wasser gerichtet, die Arme um die Beine geschlungen. Er war stiller geworden, seit er eingesehen hatte, dass ich ihm kein Geld geben würde.
Nun konnten wir reden.

Geht ohne mich, hatte ich den anderen zugerufen, die schon die Brücke gequert hatten. Die Brücke, die bloß ein Baumstamm war, der über dem Fluss lag, vier Meter lang vielleicht, an der Oberseite entrindet, ein Stück weit geebnet, damit die Schritte leichter Halt fanden auf dem Holz. Ich winkte meinen Gefährten hinterher und ließ mich auf dem Boden nieder. Mochte es für die anderen eine Brücke sein, für mich blieb es ein Baumstamm.

Kaum, dass ich allein am Ufer zurückblieb, waren die Kinder am Fluss. Sie mussten mein Zögern bemerkt haben, rannten, eins nach dem anderen, über den Baumstamm, machten kehrt, eilten zurück, als wollten sie mir zeigen: schau her, so einfach ist das. Wieder am diesseitigen Ufer, zögerten sie. Drängten sich in einer Traube, schoben die Größeren vor, standen zehn Schritte von mir entfernt.
Es war Ibrahim, der auf mich zukam.

Bonjour monsieur. Unsicher trat er von einem Bein aufs andere. Ich nickte ihm zu. Grüßte. Vous avez un stylo? Ob ich einen Kugelschreiber hätte? Ich verneinte. Un dirham? Geld vielleicht? Pourquoi? fragte ich. Weshalb? Er kratzte sich am Kopf. Geld gebe es nicht geschenkt, sagte ich, sagte es in gebrochenem Französisch und spürte dem schlechten Gewissen nach, das sich augenblicklich in mir regte.

Je m’appelle Ibrahim, sagte er und setzte sich neben mich. Ich nannte ihm meinen Namen, sah auf die anderen Kinder, von denen die ersten bereits das Interesse an mir verloren, sich aus der Gruppe lösten, um Fangen zu spielen. Wir schwiegen eine Weile. Beobachteten die Frauen, die im Fluss Wäsche wuschen, bunte Plastikwannen voll Kleidung zu ihren Füßen. Gelegentlich hob eine ihren Blick, sah in meine Richtung, vergaß mich wohl gleich wieder. Ein Stück flussabwärts schob eine Gruppe Männer drei Baumstämme in den Fluss. Ich suchte nach dem Wort, fand es aber nicht, drehte mich zu Ibrahim, deutete mit dem Finger auf die Stämme. Arbre meinte er, hob den Kopf, sagte: un dirham, monsieur, s’il vous plaît.

Ich sah ihn an. Pourquoi? Pour un mot? fragte ich. Einen Dirham für ein einziges Wort? Er senkte den Blick. Schwieg.
Jetzt, da er eingesehen hatte, dass ich ihm kein Geld geben würde, konnten wir reden.

Was er werden wolle, fragte ich ihn, als die Männer hinter der Flussbiegung verschwunden waren. Später, wenn er erwachsen war. Un guide touristique antwortete er, ohne zu zögern. Wie der Mann, der uns an diesen Ort gebracht hatte. Es sei ja ein Ort, den ein Fremder nicht leicht finde, auch wenn er schön sei. Ja, so einer wolle er sein, sagte Ibrahim. Einer, der den Menschen sein Land zeige.

Ich nickte. Er hatte recht. Es war ein Ort, von dem ich jetzt schon wusste, dass ich ihn nicht vergessen würde. Und es war eine Gegend, die nach einem Ortskundigen verlangte, sie war weit, man konnte sich in ihr verlieren. Ich sagte nichts, nickte bloß, schaute zum Fluss. Die anderen Kinder beachteten mich nicht mehr, auch die Frauen hatten sich an meine Anwesenheit gewöhnt. Im Wasser trieb ein Ast, wurde von der Strömung fortgerissen, verschwand hinter der Biegung. Am anderen Flussufer waren die Stimmen meiner Gefährten zu hören.

Was wünschst du dir? fragte ich Ibrahim. Que souhaites-tu?

Ich weiß nicht mehr, ob ich als Antwort erwartete: un stylo, des bonbons, un dirham.

Un avenir sagte er mit ruhiger Stimme. Une chance équitable.
Eine Zukunft. Eine faire Chance.
Ich sah auf den Fluss, die Frauen, die Kinder, die Brücke. Wusste kein Wort, das zu sagen gewesen wäre.

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