Im Zeitfenster: die Essenz eines Sommers (con amore)

Gastbeiträge

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Was wir erben, weil wir an jenen, die an unserer Seite leben, wachsen, ist mehr als wir je für möglich halten würden, und vielleicht genügt es deshalb einem offenen Herzen nicht, wird im Versuch eines Miteinanders Gelesenes ab und an erwähnt oder werden ›ausgewählte Gedanken‹ – eigene und aus anderen Kontexten gelöste –, ›irgendwann‹ doch in die Forderung einer ›geteilten Gegenwart‹ getröpfelt, um dort sogleich zischend zu verdunsten. Ich hätte wissen müssen, dass sich in solcher Wüste mein ureigenstes Sein zusammenzieht; und wartet – wie kann jemand glauben, als Rose von Jericho wolle man leben?, was nichts anderes dann bedeutet als: ausharren, im Hoffen auf ein wenig Regen. Solche Verhältnisse kenne ich zwar zur Genüge und von Kindesbeinen an, vermutlich ist meine sehnende Aufmerksamkeit deswegen eine andere? Doch so weit sind wir nicht, noch nicht – derzeit:
Da ruht deine Hand vorerst in meiner und meine Hand in deiner – lässt es die Breite des Trottoirs zu: So spazieren wir durch Triest, vorbei an Italo Svevo (»Ultimo viene il corvo«1Wortwörtlich? »Zuletzt kam der Rabe«. Ich habe keine Ahnung, wieso diese Erzählung auf Deutsch just den Titel »Die Krähe kam zuletzt« erhielt.), Umberto Saba (»L’ornitologo pietoso«2Darin gibt es für den Ornithologen mit Herz und Ameiseneiern sowieso keinen Raben, sondern einzig eine Nachtigall.), James Joyce (»Die Toten«3Welche Erzählung sonst breitet den Fächer aus zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit, zwischen Alltagslast und liebevoller Betrachtung? »Vögel zwitscherten im Efeu, und das sonnige Gewebe des Fenstervorhangs schimmerte auf dem Boden: er konnte nichts essen vor Glück.« Daran wird sich ein gewisser Gabriel erinnern, selbst Jahrzehnte später, an diesen einen Moment, als er hinter seiner Frau einherging und ihren Kopf, ihre Schultern, ihr Haar, ihren aufrechten Gang bewunderte: Er wird sich in alle Ewigkeit – bis in sein Sterben sogar – daran erinnern, vielleicht auch, weil zwischen jenem Moment und seiner finalen Gegenwart Jahre eines »stumpfen gemeinsamen Lebens« liegen, und er trotzdem noch immer weiß, dass er ihr einst schrieb, es gäbe kein Wort, zärtlich genug, um ihr Name zu sein. Bloß welche Vogelart sich an jenem Tag in Efeuranken breit machte, das verschwieg uns Joyce entschlossen.
Offenbar hat jeder Autor irgendwo seinen Vogel, versteckt ihn in Grünzeug und Zeilen. Nur mir ist das Wellensittichelend meiner Kindheit Vogelei genug gewesen, sodass sie meines Erachtens höchstens zur Fußnote taugen: Weder konnte man diese Biester liebkosen noch mit ihnen kommunizieren, sie waren nicht Katze, nicht Hund und nicht einmal ein Papagei.
).

Gehen Hand in Hand bis die verengende Gasse uns den Gleichschritt verwehrt, weil sich ihr Empfinden schmal schlängelt – vom Meer fort, den Hügel hinauf:
Dort suchen wir nach einer Allee, deren Besonderheit darin besteht, dass sie angeblich ›DIE Allee‹ für das Lustwandeln ›ALLER‹ Triester*innen sei; womöglich, weil sie als einzige Fußgängerallee dieser Stadt mit den ihr eigenen altehrwürdigen Platanen verspricht, dass unter diesen üppigen Blattkronen ein schattiges Lüftchen zu spüren sein würde, selbst in Gegenwärtigkeiten, an denen die sommerliche Hitze nicht einmal an späten Nachmittagen verstummen will: So behauptete es zumindest ein Online-Forum in aller Ungenauigkeit. Darüber ein Photo mit Blick – auf einen Fluchtpunkt hin – in sich weitendes Grün hinter Vespa-Reihen, Griff an Griff. Als Adresse wird ausschließlich ein Platz genannt, der sich in der Nähe jener Allee finde (Und unser Stadtplan ruht friedlich am Küchentisch.) – wir sollten uns wohl etwas weiter nach Nordwesten wenden, dann würde die Richtung schon stimmen. Ohnedies haben wir keine Eile:
Niemand beordert uns irgendwo hin, und ob wir ›DIE Allee‹ entdecken oder nicht, ist einzig für unser Vergnügen wesentlich. So oder so würden wir nach getaner Arbeit eines Vormittags – deine Hand in meiner, meine Hand in deiner – durch die Gassen dieser Stadt laufen, und dabei stets dies oder das entdecken: Dazu sind wir hierher gekommen, nach Triest, und noch brachte jeder Tag feine Überraschungen, die unsere Gespräche vor dem Verebben retteten – würden wir uns Jahrzehnte später (drauf und dran, zu Schattenbildern einer Ewigkeit zu verblassen) auch noch daran erinnern?, oder gäbe es bereits lange vor dem Ende unserer Zeit nur noch das ehemalige Echo eines ›Wir‹? Es wäre kein Wunder, bei der Enge dieser Welt, die uns tagtäglich den Atem nimmt und die zu deiner Verschlossenheit beitrug: Werde ich es zuwege bringen, dich zu fließender Offenheit zu ermutigen? Oder selbst daran ersticken?

Im Hintereinander verlieren wir die jeweilig anderen doch leicht aus dem Blick: Man teilt ja so eine Aussicht stets nur bedingt; und ich folge deinen Füßen in den Sportschuhen – wie gerne hättest du dir Riemchenpumps, zart und rot, in diese Stadt der Ahnen mitgebracht: Meinen Segen hattest du, aber dir war die Angst näher. Und die Frage, was würdest du tun, käme einer in Aggression auf uns zu – wärest du allein, würdest du ihn gewähren lassen, ihn oder sie, denn zumeist, so sagtest du, zumeist kommen sie ohnehin in feigen Gruppen. Was aber sollest du tun, wäre ich mit dabei – kleiner und kaum schwerer als ein Eichhörnchen, wiewohl ebenso flink – und stünde unser Wir ihrer Wut gegenüber? Du könntest es dir nie verzeihen, dies verursacht zu haben. Lieber bliebest du in der Maskerade (Selbst wenn jenes ›lieber‹ eine Lüge sei.).

Auch in dieser Gasse, die keineswegs in unsere gesuchte Allee übergeht, reihen sich Vespas – als wäre es ein Gesetz dieser Stadt, dass Griff nach Griff zu fassen hat, wie Hand nach Hand. Du gehst vor mir her, die bedächtig schlurfende Langsamkeit deiner Schritte bringt mir im Alltag allzu gerne die Ungeduld, daran ändert auch Triest nur wenig, und ich schlüpfe an deiner Seite vorbei, die Kamera bereits vor dem Auge, wende mich zu dir und zum Meer – hinter deiner Schulter am Horizont. Auf der Straßenseite gegenüber taucht eine Hand einen breiten Pinsel in Farbe, setzt ihn auf der Hauswand auf, um zu übermalen, was jemand dort zurückließ – oder vielmehr: was ihrer zwei in divergierenden Handschriften auf diese Fassade setzten, damit jede*r es sehe. Ich frage mich, was zuerst da war, was danach kam; und was hat folglich den neuen Anstrich veranlasst: das riesige Hakenkreuz in eiliger Sprühfarbe, dem ein Endbalken fehlt; oder Hammer und Sichel, mit Schablone aufgetragen. Die dunkelgraue Farbe, die der Mann auf den Haussockel pinselt, will weder das eine noch das andere bedecken. Stattdessen tropft und tränt sie, perlt vom Sprühlack ab und nutzt nichts gegen das schablonierte Schwarz. Mit einem Fluch legt die Hand den Pinsel beiseite, der Mann tritt drei Schritte zurück, seufzt. »Sali e Tabacchi« steht über seinem Kopf, »valori bollati«. Er reibt sich die Stirn mit dem Handrücken, sein Daumen hinterlässt einen Streifen Grau – schräg zu seiner Augenbraue; blicke mich um und sehe die Gasse hinab – das Meer, es fügt sich flutend ein, zwischen diese beiden Häuserzeilen, wie sehr sie sich zueinander auch immer verengen mögen. Als wüsste diese Stadt, was ein Mensch braucht, um gut zu leben: konstant in ihrer Wiederkehr die Aussicht auf Weite! Und tut sich eine Lücke in der Gegenwart auf, keimen Gedanken. Sie brauchen die Ruhe des Freiraums, ich weiß. Ohne diese Möglichkeit des Nichts entsteht kein Novum.

Diesen Zwischenraum in der Zeit kann man sicherlich auch wunderbar öffnen, steht man dort oben, auf einem der Balkone, blickte man zum Meer hin, an das schmiedeeiserne Geländer gelehnt; oder erfreut sich das Auge am wuchernden Grün der Nähe. Sogar dem Darunter wird durch solch ein Balkonleben ein wenig Schatten gespendet; und anderswo stünden sicherlich an Nachmittagen sogleich Sessel auf dem Trottoir.
Bevor sich die Gasse weiter verengt und damit eine neue Erzählung begänne, biegen wir links ab, biegen wir rechts ab – schon fügt der Blick zurück das Meer erneut ein, und die Straßenlaternen, weiße Glaskugeln, mit feinem Metallgeflecht ummantelt, schweben über unseren Köpfen und behaupten stoisch, dass sie früher einmal bessere Zeiten gesehen haben: Dabei ist alle momentane Weile das Erbe der Vergangenheiten. Sie lassen sich nicht abstreifen in ungeliebten Kleidern, nicht mit Hormongaben tilgen, und du bist einen Häuserblock zurückgeblieben, trottest versunken vor dich hin, indessen deine eine Hand an der anderen nestelt, summst dir leise eine Melodie, abwesend, so, wie nur du dies in der Gegenwart anderer sein kannst – nein, nicht nur deshalb täuscht die Aussage ›wurde geboren am‹: In ihrer Blindheit suggeriert diese Wendung, dass ein Mensch dann zu sein beginne, tätige er den ersten eigenständigen Atemzug. Als wäre dieses Nach-Luft-Schnappen nicht dem Erschrecken geschuldet, über die Welt, in die man gewaltsam gepresst wird und der man nur durch den Tod entkommt.

Das Hineingepresst-Werden in dieses Leben wäre nicht so unerträglich schlimm, würde es sich nicht fürderhin tagtäglich fortsetzen, in dieser Welt, die uns in Empfang nimmt: mit ihrem ersten Blick auf unser jeweiliges Sein bereits auf einen Lebensweg festgelegt, als hätten wir in unserer Persönlichkeit nichts darin zu suchen und zu sagen.
Was ändert es, dass der Weg – der mögliche, der vorstellbare – im Laufe des letzten Jahrhunderts etwas breiter geworden ist (Dreißig Zentimeter rechts und siebenundneunzig links, vier sogar in die Erde …), wenn solches Denken einen Menschen trotzdem noch immer sogleich bei Ankunft vermisst, bevor wir ein einziges Mal ›Ich‹ gesagt haben, in Kilo und Gramm, in Zentimeter: Fakten müssen geschaffen werden, stehen danach in Tabellen, um auf Lebenszeit Vergangenheitslast auszudünsten durch das zufällig zugeordnete Geschlecht – weiblich, männlich? Eine weitere Option kannten wir ewig nicht. Damit wir alsdann all unser Sein diesen ersten kategorischen Zumutungen entgegenzustemmen haben – anatmen gegen ihr Resultat an Erwartungen bis zum letzten Zug: Der kräftige Kerl wird kein durchsetzungsfähiger Mann. Aus dem zierlichen Jungen wächst ein narzisstischer Macho. Der Knabe mit großem Kopf und breiten Schultern fühlt sich als Mädchen. Die Zarte wächst zur anpackenden Frau heran, eine andere mit blonden Engelslocken wird burschikos. Das korpulente Mädel entwickelt sich zur blonden Tussi; und eine fühlt sich weder-noch.
Wozu also?

Und wann wurden wir folglich geboren? Ist all unser So-Sein nicht von Anfang an derart breit gefächert, um uns Entwicklung zu gestatten? Da fasst aus einer Auslage eine Lithographie mit beiden Händen nach mir, sodass ich abrupt stehen bleibe, einen Schritt zurückweiche, um klarer zu sehen. Mein plötzliches Verharren lässt dich in mich stolpern, was auch deinen Tagtraum zerreißt. Ein junges Frauengesicht im Profil, ihr Körper, schon im Fortgehen abgewandt, wirft noch einmal einen Blick über die Schulter zurück, wie Lots Frau: auf Männer über Männer. Sieben an der Zahl, so stehen sie hinter ihr, gesichtslos unter schwarzen Hüten. Sehen nichts, hören und riechen nichts. Stehen dennoch drückend in ihren schweren Mänteln hinter ihr, den Hals in Priesterkrägen gesteift – und sie, unter weißem Hut, ein Schreck in den Augen, ein Trotzdem auf den Lippen: erstarrt nicht. Sie wird weitergehen, fortgehen – im weißen Sommerkleid, sie wird sich eine frohmütige Zukunft nicht nehmen lassen. Und sie trägt sicherlich keinen BH.
Eine vollkommene Geschichte auf sechzehn mal siebenundzwanzig Zentimeter. Darunter ein Name – Laura Stor – der mir nichts sagt.
Noch nichts.

Ich trete von mir selbst zur Seite.
Smaragdgrün eingefasst, der Laden, der diese Auslagenfläche umgibt – »Larboratorio Cornici«, Rahmenwerkstatt, steht darüber. Du wirfst einen weiteren Blick über meine Schulter auf diese Lithographie: Ja, so könne man es auch sehen, eine Frau und sieben Priester. Selbst wenn der feine schwarze Strich quer über den Kragen auch auf eine Schalkrawatte verweisen könnte, sagst du. Dein Blick darauf ist seit der Vermessung deiner Welt ein anderer, natürlich.
»So oder so: Es sammelt sich das Patriarchat hinter ihr. Und wohlgesonnen ist da kaum einer. Sie lassen sich nicht in die Gesichter blicken.«
Du willst weitergehen, ich aber – ich kann den Blick nicht lösen, es ist, als würde mich dieses Bild hier festhalten, mitten am Trottoir (Und sollte Kunst nicht genau dies: Uns packen, uns wirbeln und uns kehren, Innerstes nach Außen, und unser Gesicht, unseren Geist einer Angelegenheit zuwenden, die uns Sorge bereitet, Angst macht, widerwärtig ist oder schlicht: uns packt und festhält, hat sie unsere Seele einmal gefasst?), wenn mich dieses Bild derart fasziniere, warum nicht es erstehen, fragst du. Ich verweise auf den Preis. Du hältst ihm entgegen, dass es »nur 5 Abzüge« gäbe.
»Lass uns weitergehen«, und setze schon den ersten Schritt. Ohnedies habe der Laden bis zum frühen Abend geschlossen, und solche Entscheidungen bräuchten ihre Zeit: Wer weiß, ob sich der Eindruck dieses Bildes, nicht in ihr verflüchtigen würde?, sage ich und denke:
Auch das Gegenteil könnte der Fall sein.

Laufen Stunden durch die Stadt, geben noch immer vor, ›DIE Allee‹ zu suchen, in Wahrheit jedoch: sehne ich mich nach dem Vergehen der Zeit, will das Bild der fliehenden Frau im weißen Kleid aus der Nähe betrachten. Welches Schuhwerk sie trägt, das wird auch dann nicht zu sehen sein. Laufschuhe, denke ich, leichtfüßige Laufschuhe. Oder vorne auf Plateau, 12er-Stiletto Heels hinten, sicherlich in Weinrot, wehrhaft im Fersenkick; und den Herren das fade Schwarz der Treter.
Noch immer döst die Sommerluft um uns schläfrig, die Zeit ruht in ihr und niemand (außer mir) will sie eilen.

Aus:
Schachinger-Pusiol, Marlen: Und behüte uns vor deinen Erinnerungen. Oder: Poetisiert euch, verdammt! Ausschnitt aus dem noch sich in Arbeit befindenden Romanmanuskript.

Marlen Schachinger wurde im Dezember 1970 frühzeitig und während eines Schneesturms geboren – wohlgemerkt: der österreichischen Variante desselbigen, und wie alles hierzulande kommt auch so ein Schneesturm ein bisschen verhaltener daher als anderswo, ein bisserl gemütlicher eben. Dennoch genügten die Böen, dass der Rettungswagen am See entlang schlingerte und beinahe in einer Schneewehe zum frühzeitigen Ende seiner Fahrt gekommen wäre. Und der Wind blies dem Kind, das gerade geboren wurde, in jener Nacht seine Lebenskraft und sein Temperament zu, wehte sie zum Trotzdem und nährte den unbändigen Wunsch, dieses Leben kraftvoll zu gestalten.
Nicht nur, dass bereits ihre Geburt mit einer Geschichte begann, wuchsen diese auch mit ihr, nährten sich am Klang der Wörter in Gedichten, verzweigten sich in der Lektüre in alle Himmelsrichtungen, schufen Universen und Bildwelten, wurden Klangraum und Lebensmittel.
Und weil Marlen Schachinger ist, wer sie ist, will sie sehen, was vor sich geht, will Welt in ihrem Sein und ihrem Könnte umfassen, will gestalten. Sei es in ihren Büchern, in ihren Filmen, sei es in fremden Sprachwelten, die sie in ihrer eigenen zum Tönen bringt oder in den Erzählungen anderer, denen sie zur Welt verhilft. Da dies alles auch einen Boden braucht, studierte sie Komparatistik und Sprachen. Wer aber seine Gedanken mit dem Wind ziehen lässt, tut gut daran, nährende Erde unter den Füßen zu haben.
So erzählt, liest, liebt, lebt sie auf ihre Art: nachsinnend, wissbegierig, manchmal durchaus auch mit der Leidenschaft des Windes, dem sie von Kindheit an zugetan ist.
Zuletzt (November 2024) erschien von ihr »Der Mann, der einen Berg versetzte, da seine Frau ihr Leben lebte« in der »Edition Arthof«.
Marlen Schachinger
Edition Arthof

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Marlen Schachinger-Pusiol.

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