Seite siebzehn, flüstert sie, starrt auf den Bildschirm, selbstsicher, konzentriert, blättert im Vertrag, spürt die Hand, die wieder schmerzt. Sie kneift die Augen zusammen, schaut, schaut, findet die Stelle nicht, die sie sucht. Diese Regelung, denkt sie, stand sie nicht auf Seite siebzehn? So sicher war sie sich, zweifelt nun, blättert, hastig, ungeduldig, achtet nicht auf das Brennen im Handgelenk, wird fündig zwei Seiten weiter. Ich hab’s gewusst! ruft sie, klatscht in die Hände, sieht auf, lächelt. Daumen hoch, deuten die Kollegen, einer klopft ihr auf die Schulter. Sie steht auf, will zur Toilette, hat zehn Schritte gemacht, als das Telefon klingelt. Sie schaut aufs Display, sieht die Nummer. Festnetz. Die Mutter, denkt sie, quert den Raum, nimmt das Gespräch an, sagt: Hallo Mama.
Sie kennen mich nicht, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung.
Wer spricht? fragt sie, ist verwirrt, alarmiert. Sie schleicht in eins der Besprechungszimmer, schließt die Tür. Was ist passiert? fragt sie, setzt sich nicht, geht auf und ab im engen Raum.
Ich bin bei Ihren Eltern, sagt die Stimme. Eine Frauenstimme. Eine sympathische Stimme. Ihre Mutter, es geht ihr nicht gut, sagt sie.
Ich weiß, sagt die Tochter, streicht sich mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Sie ist dement, will es nicht wahrhaben, will nichts ändern an ihrer Lage. Sie will keine Therapie, kein Heim, nur -. Entschuldigen Sie, wie war Ihr Name?
Kollmann, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich kenne Ihre Mutter ein wenig, wir reden manchmal miteinander. Sie zögert kurz. Ich bin Zeuge Jehovas, müssen Sie wissen.
Die Tochter schweigt, ist erstaunt, weiß nichts zu sagen.
Ihre Mutter, wissen Sie: ich habe sie auf der Straße getroffen, sie nach Hause gebracht. Sie hatte ein Nachthemd an. Sie sagt, Ihr Vater schlägt sie. Stille, sekundenlang, bis sich die Frauenstimme räuspert.
Die Tochter lacht, aus Verzweiflung, aus Scham. Sagt dann: Manchmal, Frau Kollmann, behauptet sie auch, dass ihr Bruder sie schlägt. Er ist seit vierzig Jahren tot.
Ja, sagt die Frauenstimme, mehr sagt sie nicht. Verständiger kann ein Ja nicht klingen, denkt sich die Tochter. Meint: Sie nimmt ihre Medikamente nicht. Sie denkt, wir seien alle gegen sie. Mein Bruder, meine Schwägerin, ich. Mein Vater. Mein Vater vor allem.
Schweigen, eine ganze, dunkle Weile. Bis die Stimme am anderen Ende der Leitung sagt: Ihre Eltern brauchen Hilfe. Die Tochter nickt, fühlt sich schuldig, schwach. Wie, denkt sie, soll ich erklären, welche Wege der Bruder, die Schwägerin gegangen sind die letzten beiden Jahre? Weil sie sich nichts vorwerfen wollen vor dem eigenen Gewissen, weil ihnen das vierte Gebot in der Seele tobt. Wie lässt sich fassbar machen, dass ihre Kraft am Starrsinn der Eltern zerschellt ist? Wie viele Worte braucht es dafür? Und wer könnte glauben, was er da hört?
Die Tochter atmet, atmet tief, wischt sich die Hilflosigkeit aus der Seele. Sagt: Wir leben weit weg vom Elternhaus, haben Berufe, werden selbst älter. So lange schon, dass wir den Eltern sagen: verkauft das Haus, zieht in ein Heim, lasst euch helfen. Verbraucht, was ihr habt, wir wollen weder Erben sein noch Knechte. Haben wir nicht auch ein eigenes Leben verdient?
Aber es sind doch Ihre Eltern, flüstert die Stimme.
Ja, das sind sie, sagt die Tochter. Und wir, sind wir ihre Geiseln? Werde ich verdammt dafür, dass mein Wille nie stark genug war, den ihren zu brechen? Was ist es, das man mir vorwirft?
Stille poltert in der Leitung, bis die Tochter meint: Sie sind ein guter Mensch, Frau Kollmann. Sie haben Augen für das Inferno, das in meinem Elternhaus tobt. So viele, die mit den Fingern auf uns zeigen, während sie ihre Türen verschließen.
Was ist dieses „nur“, das Ihre Mutter will? fragt die Stimme.
Die Tochter runzelt die Stirn, ist verwirrt. Ich verstehe nicht, meint sie.
Sie sagten: Ihre Mutter will keine Therapie, kein Heim, nur -. Was ist es, das sie will?
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