Ladina lacht. Gross, das blonde Haar zusammengesteckt steht sie da zwischen den Webstühlen im sonnendurchfluteten Raum der Movimento-Werkstatt in Samedan. Nein, sie ist nicht die Leiterin der Weberei. Sie ist „Klientin“ und arbeitet hier in einem geschützten Rahmen. Sie führt mich zu ihrem Arbeitsplatz. Ich schaue in die filigrane Ordnung von eingespannten Fäden. Ladina webt an schmalen Tüchern aus Leinen. Das Einrichten des Webstuhls braucht anderthalb Tage. Sie schiebt das Schiffchen hin und her, betätigt dabei das Pedal. Sie sitzt auf einem besonderen Hocker. Da sie am linken Bein eine Unterschenkelprothese trägt, kann sie das Knie nicht ganz durchbiegen. Aber so geht es. „Weben ist auch eine Art von Meditation.“ Sie liebe diese Arbeit; sie sei überglücklich hier. Ladina Cadonau ist in Samedan geboren und nach Jahren im Unterland, in Zürich und im Kanton Aargau, 2008 zurückgekommen. „Ich bin wieder ich“, sagt sie. Aber dazwischen war sie eine andere.
Dabei begann alles gut. Die Mutter kam von einem Bauernhof aus dem Münstertal; der Vater war ein Senter Knecht, der sich in jugendlichem Überschwang zur Fremdenlegion gemeldet hatte. 1952 wurde er in Marseille eingeschifft, dann ging es nach Vietnam, in den ersten Indochinakrieg. „Nie wieder“, sagte er, als er nach fünf Pflichtjahren zurückkam. In der Schweiz musste er wegen seines Söldnerdienstes zunächst eine Gefängnisstrafe abbüssen. 1960 haben sich die Eltern kennengelernt. 1961 kam Ladinas Bruder Carlo (heute Postauto Chauffeur in St. Moritz) zur Welt, 1966 Ladina. Der Vater arbeitete als Hauswart bei einer Bank in St. Moritz, aber er war bekannt für seine schönen Schnitzarbeiten: Teller, Truhen, Uhren. Und er konnte sticken. Decken und Kissen im Engadiner Kreuzstich. Er beherrschte die Plattstichstickerei. Man brachte ihm bunte Seidenfäden und die Drucke und dann bestickte er die Engadiner Tracht, die Mieder, die Vorstecker, die Schürzen, die Schultertücher, die Täschchen mit Rosen, Tulpen, Nelken, Granatäpfeln, Herz- und Blattmotiven. „Mein Vater war immer mein Vorbild.“ Er sei sehr liebevoll gewesen. Und gelassen. Sie bewunderte seine Handfertigkeit. Die Mutter war vom katholischen Glauben zum reformierten konvertiert. Jeden Abend betete der Vater, aber man ging meist nur zu den hohen Festtagen in die Kirche. Auch Ladinas zwei Söhne, Kris und Andy, sind konfirmiert. Sie wollte, dass sie mit einem Glauben, einem Leitfaden aufwachsen. Ladinas Mutter sprach Jauer, der Vater Vallader. Als sie später ihren Kindern in Samedan bei den Hausaufgaben helfen wollte, musste sie sich ein Wörterbuch für Puter kaufen. Ladina denkt gerne an das Zusammensein mit ihren Kindern zurück. „Meine Kinder waren alles für mich.“ Und an ihre eigene Kindheit. Jedes Jahr fuhr die Familie vom Engadin nach Alassio an die italienische Riviera. Das sei sehr schön gewesen. Ladina besuchte die Schule in St. Moritz. Mit 16 Jahren kam sie ein Jahr auf die Bäuerinnen- und Haushaltungsschule in Schiers. Danach machte sie, wieder in St. Moritz, eine Lehre als Sporttextilverkäuferin.
Sie ist dreissig, als sie im Kanton Aargau in einem Sanitärgeschäft arbeitet. Als Disponentin hat sie neue Regale bestellt. Und da kommt ihr „Traummann“ und stellt sie auf. Er betreibt eine Firma für Innenausbau mit Schreinerei. Übers Jahr sind die beiden verheiratet, Kris wird geboren. Sie arbeitet mit in der Firma. Andy kommt zur Welt. Doch in der Ehe verändert sich der Mann. Er empfindet sie als sein Eigentum, beherrscht sie, demütigt sie. Er verlässt sie immer wieder und kommt zurück. Sie kann sich nicht von ihm lösen. Die beiden kaufen ein 100-jähriges Haus, das sie umbauen wollen. Und da geht er endgültig. Die Kinder sind vier und sechs Jahre alt. „Und als er mich so sitzen liess in dieser unbewohnbaren Ruine und ohne Geld, da stieg die Angst wie das Wasser. Ich wollte nichts mehr spüren. Da habe ich zu trinken begonnen.“ Und das Schlimmste sei gewesen, als er weg war, hätten ihr noch seine Quälereien gefehlt. Er habe sie wahrgenommen. Etwas, das sie am Leben gehalten hatte, war vorbei. Nun war sie allein. Sie sei so blöd gewesen! Aber so etwas passiere ihr nicht mehr! Ob ihr Mann getrunken habe? Nein, sagt sie. Auch sie habe vorher nicht getrunken. Sie möge keinen Alkohol. Aber nun begann sie mit Hochprozentigem. Sie wollte sich betäuben.
Und ein ungeheurer Abstieg begann.
Der Mann bezahlt nicht für sie und nicht für die Kinder. Sie bekommt Unterstützung von der Gemeinde. Aber sie findet keine Wohnung. Sie gilt als riskanter Sozialfall; sie versucht es immer wieder, ohne Erfolg. Mit Hilfe eines Sozialarbeiters erhält sie einen Platz für ihre Söhne in einer Pflegefamilie auf einem Bauernhof in Beinwil am See. Sie beginnt eine Therapie in einer Klinik, kommt danach für einen Monat in einem Kloster unter. Trinkt wieder. Kommt erneut in eine Klinik. Aber sie ist keine Akutpatientin. Und ein Therapieplatz ist nicht frei. Sie weiss nicht wohin. Kurze Zeit lebt sie mit anderen Obdachlosen im Bahnhof Lenzburg. Sie schlafen in Zügen, waschen sich in der Bahnhofstoilette. Neben dem Bahnhof ist ein Burger-Stand. Nicht alle, die einen Burger kaufen, essen ihn ganz auf. Ihr Bruder kommt und will sie ins Engadin zurückholen. Ich kann nicht ohne dich zurückkommen, sagt er. Aber sie weigert sich. Sie will nicht den Kanton verlassen, in dem ihre Kinder sind. Endlich nimmt die Klinik in Gontenschwil sie auf. Danach kann sie eine Weile bei einem Kollegen wohnen. Und sie findet eine Arbeit in einem Gasthof in Leutwil. Sie putzt und darf dafür dort schlafen und essen. „Das war gut! Auch die Kinder durften mich am Wochenende besuchen und essen. Ich hatte einen Superchef.“ Und er lieh ihr das Auto, wenn sie die Kinder wieder zur Pflegefamilie bringen musste. „Wir sind drei Musketiere“, habe sie zu ihren Söhnen gesagt, „wir schaffen das.“ Und wenn sie traurig war, sagte ihr Kleiner: „Mama, wir sind drei Musketiere.“
Mit 42 Jahren kehrt sie ins Engadin nach Samedan zurück. Ihre Eltern, vor allem die Mutter, helfen ihr mit den Kindern. Im darauffolgenden Jahr stirbt ihr Vater. Sie ist immer noch alkoholkrank. Sie kommt in die Klinik Waldhaus nach Chur, dann in die Klinik Beverin in Cazis. Dort sagt man ihr: Entweder hörst du auf, oder du bist in einem Jahr tot. Das will sie nicht. Sie hat doch die Kinder. Sie lebt eine Weile mit den Söhnen im begleiteten Wohnen im „Girella“ in Bever, arbeitet beim Coop, danach in einer Metzgerei. Schliesslich findet sie in La Punt ein kleines Hotel, in dem sie arbeiten kann. Sie bezieht mit ihren Kindern eine Wohnung. Sie kann sieben Jahre bleiben. Von Geburt an hat sie eine Fehlstellung des linken Fusses. 2009 wurde er zum ersten Mal operiert, geradegestellt, die Ferse neu moduliert. Doch einmal stolpert sie im Winter über einen Dohlendeckel und bricht den operierten Fuss mehrfach. Es folgen weitere Operationen. „Schrauben rein, Schrauben raus, Schrauben rein.“ Dann wird ihr Fuss schwarz. 2019 bekommt sie eine Unterschenkelprothese. Aber sie habe gekämpt. „Ich bin im Rollstuhl in die Reha und ohne Krücken wieder raus.“ Doch mit Prothese ist sie nicht mehr wendig und schnell genug für die Arbeit in einem Hotel. Die Wohnung in La Punt ist für die IV-Ergänzungsleistungen zu teuer. So zieht sie nach Madulain.
Ich begleite Ladina nach Hause. Zehn Minuten Zug, dann vom Bahnhof ein paar Schritte. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung liegt zuunterst am Hang. Sie muss eine lange Aussentreppe hinabsteigen. Sie wisse nicht, wie lange sie das mit ihrer Prothese schaffe.
Seit anderthalb Jahren arbeitet sie in der Weberei des Movimento. Erst 30%, dann 80%, jetzt 100%. Und wenn sie 65 ist, möchte sie weiterarbeiten. Sie liebe ihre Arbeit und auch das Zusammensein mit geistig Beeinträchtigen gefalle ihr. Alle seien so freundlich zu ihr. Und mittags hole sie ein Bus ab, und sie fahren gemeinsam zum Essen in die Ufficina. Das Essen sei besser als in manchem Hotel!
Sie habe immer Angst gehabt, dass man ihr die Kinder wegnehme. Aber sie hatte durchwegs das Sorgerecht. Sie hat es schaffen wollen, und sie hat es geschafft. Beide Söhne haben eine Lehre abgeschlossen. Kris ist Strassenbauer geworden; im Winter arbeitet er auf Skihütten. Er lebt mit seiner Freundin in Samedan. Andy ist Maler und wohnt im Haus des Malergeschäfts in Silvaplana. Oft kommt er am Wochenende zu ihr. Nimmt sie in seinem Auto mit nach Chur oder Livigno. Vor ihrer Wohnung am Hang hat er einige Platten gelegt und so einen kleinen Garten-Sitzplatz eingerichtet. Ob sie einen Freund habe? Sie schüttelt den Kopf. „Die Liebe macht mir Angst.“ Aber sie unternimmt viel mit ihrer jüngeren Freundin Denise. Sie und deren Mutter „haben viele Ferienwohnungen“. Was bedeutet, dass sie samstags viele Ferienwohnungen für Gäste parat machen. Ladina hilft. „Wir sind ‚Das Putzinstitut des frohen Herzens‘.“ Wie sie so dasitzt und mit der Katze spielt, lese ich die Glitzer-Schrift auf ihrem rosa T-Shirt. „Good things never come from comfort zones“. Die Katze schnurrt. Ladina lacht.
Ladina Cadonau, Madulain, Weberin auf dem zweiten Arbeitsmarkt, 57 Jahre
Aus:
Angelika Overath: Engadinerinnen, erschienen im Februar 2024, Limmat Verlag.
Angelika Overath ist 1957 in Karlsruhe geboren. Sie hat über die Farbe Blau in der modernen Lyrik promoviert, drei Kinder geboren, Reportagen, Essays, Romane und Gedichte geschrieben. Nach Jahren in Tübingen und Thessaloniki lebt sie seit 17 Jahren in Sent, Unterengadin. Hier wird Vallader, ein Idiom des Rätoromanischen, gesprochen. Im Frühjahr 2022 kam „Schwarzhandel mit dem Himmel/ Marchà nair cul azur“, ihr dritter zweisprachiger Gedichtband, heraus.
Während mehrerer Monate am Bosporus entwickelte sie den Roman „Ein Winter in Istanbul“ (2018). Im April 2023 erschien „Unschärfen der Liebe“ (Luchterhand), der zweite Teil ihrer Istanbul-Trilogie, der für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde. Sie hegt eine Liebe zu den heilenden Kohlpflanzen; ihrem Knie widmete sie ihr literarisches Sachbuch „Krautwelten“ (Insel-Bücherei). Mit ihrem Mann führt sie in Sent eine Schreibschule Sent.
Angelika Overath (Wikipedia)
Angelika Overath bei Literaturport
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